Neulich stand bei uns ein Pferd im Kanal und wir standen alle ziemlich dumm drum herum. Die Geschichte geht so: Wir wohnen in einer alten Ölmühle, unter dem Gebäude verlief einst ein Kanal, der die Mühlsteine antrieb. Der ist seit Jahrzehnten verfallen, aber weiter hinten auf dem Land, mitten im Wald, existieren noch seine letzten zwei-, dreihundert Meter, bis er in einen Bach mündet. Eine aus alten Steinen gemauerte, vielleicht vier Meter breite und tief ins Gelände geschnittene Wasserrinne. Eh bien, Wasser ist zumindest auch drin. Eigentlich ist es eine von ich-weiß-nicht-welchen-Wasserpflanzen grünlich schimmernde Suppe, ungefähr einen Meter tief, darunter mindestens ein weiterer Meter weicher Schlamm, mittendrin im Trüben umgestürzte Bäume und ein paar unerschütterliche Aale und ungefähr eine Millionen Mückenlarven.
Unsere Nichte hat ein paar Pferde und Ponys. Die traben an diesem Kanal vorbei, wenn sie vom Stall zur Weide gehen. Ihr größtes Pferd, Lilly, ist trächtig. Und Lilly stand eines Abends bis zum Bauch im Kanal und kam nicht wieder heraus.
War schon das zweite Mal.
Als Lilly das erste Mal trächtig war, fanden wir sie ebenfalls im Kanal wieder. Keine Ahnung, wie sie da hineingekommen ist (War wohl kein Absturz, verletzt war sie nicht.), keine Ahnung, warum das ausgerechnet während ihrer Schwangerschaften passierte, muss ein Frauending sein. Jedenfalls konnte der Gaul die steilen Flanken des Kanals nicht erklimmen, ja konnte sich im Kanal selbst kaum bewegen, weil all die im grünen Wasser steckenden Stämme, Äste, Zweige, Ranken ihre Fesseln fesselten.
Aufregung, Feuerwehr, der zukünftige Mann unserer Nichte – ein Mann, der seine Frau sehr liebt, denn er zögerte nicht – stürzte sich halbnackt ins Trübe, um Lilly zu beruhigen. Unsere Nichte kam bald darauf, sie stürzte hinterher. Wir hatten einen Freund unseres Sohnes zum Abendessen da, aber, klar, wir stürzten, nun, wenigstens bis zum Kanalrand.
Die Feuerwehrleute kamen rasch, mit Jeep und Löschzug, doch ohne Kran. Lilly wiegt eine halbe Tonne oder etwas mehr. Was tun?
Zum Glück wohnt bei uns im Dorf jener Bauunternehmer, der uns einen erheblichen Teil des alten Gemäuers renoviert hat (und der, ohne dass er es weiß, das Vorbild für Monsieur Fuligni in den Capitaine-Blanc-Romanen ist). Ein Anruf, er kam innerhalb von zehn Minuten an. Mit einem Gerät, das den politisch heute wahrscheinlich extrem unkorrekten Herstellernamen „Manitou“ trägt, einer Art mobilem Kran und Bagger und ungefähr so groß wie ein Dinosaurier.
D'accord, Manitou, Feuerwehrleute, Pferd. Was fehlt? Ein Geschirr, um das Tier an die Greifhaken Manitous zu hängen. Unser Bauunternehmer hat zwar solide Seile, mit denen man sogar abgeschossene russische Panzer aus dem Donbass zerren könnte, doch die sind so schmal, dass sie den Körper unserer nicht leichtgewichtigen Lilly gefährlich einschnüren könnten. Die Feuerwehr hat ein spezielles Bergegeschirr für Pferde, Kühe und alles, was riesig ist und vier Beine hat.
Das liegt im Depot nahe bei Marseille.
Also warten wir. Unsere Nichte und ihr Zukünftiger und ihre Schwester und ein pferdekundiger Nachbar beruhigen Lilly, bugsieren sie ein paar Zentimeter näher unter Manitous langen Schatten, versuchen sogar, einen unter Wasser steckenden und besonders störenden Stamm durchzusägen, vergebens. Es dunkelt. Die Mücken veranstalten ein ganz großes Festessen, wir sind alle eingeladen. Der Weg aus Marseille ist sehr, sehr lang.
Endlich sind die Feuerwehrleute da. Inzwischen stehen bei uns am Kanal so viele Uniformierte, das man viellleicht schon von einem „Großaufgebot“ sprechen könnte. Das Geschirr wird aus seiner Transporttasche geholt, auf dem Boden ausgebreitet und... äh, wie geht das noch mal? Keiner unserer Feuerwehrleute hat bislang ein Tier damit geborgen und, klar, wir haben erst recht keine Ahnung. Ist diese Schlinge nun für den Hals? Oder soll da eher der Schweif durchgesteckkt werden? Ehrlich, solche Fragen haben wir uns gestellt. Keiner kannte eine Antwort, beziehungsweise, hey, wir sind in Südfrankreich, jeder hatte eine Antwort, die er laut und selbstbewusst verkündete. Waren leider alles unterschiedliche Antworten.
„Wir sehen im Internet nach, da gibt es eine Bedienungsanleitung“, verkündet der Feuerwehrhauptmann. Er weiß noch nicht, dass wir in diesem beschissenen Tal keinen Handyempfang haben. Also verteilen sich ein paar Leute weitläufig in der Landschaft und suchen eine Position, von der aus sie endlich einen Strich auf ihrer Netzanzeige erhaschen.
Alors, irgenndwann hängt das Geschirr doch in der richtigen Position am riesigen Manitou. Unser Nachbar setzt das Gerät in Bewegung. Unsere Nichte und ihr Liebster ziehen, beinahe tauchend, das Geschirr unter Lillys Leib hindurch. (Der Zukünftige schluckt dabei eine ordentliche Ladung Schweißwasser.)
Dann röhrt der Motor, Lilly guckt ergeben – und ein Pferd, das alle Viere hängen lässt, schwebt langsam aus dem Kanal, dem sicheren Erdboden entgegen. Lilly ist verschlammt, doch fit. Fit genug jedenfalls, dass sie bei ihrer nächsten Schwangerschaft garantiert wieder in den Kanal steigen wird.
Es ist beinahe Mitternacht, als wir erschöpft, verschwitzt und mückenzerstochen, zum erkalteten Abendessen zurückkehren. „Bei euch ist immer was los“, sagt der Freund unseres Sohnes. Ich will gerne glauben, dass er das bewundernd meinte. Aber eigentlich klang er ein ganz klein wenig fassungslos.
Oh well, in diesem Sinne wünsche ich uns allen einen schönen, ereignisreichen Sommer. Und halten Sie sich bitte von Kanälen fern.
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