Montag, 12. August 2019

Grotten von Calès


Manchmal erlebt man hier Sachen, die eigentlich nur den Helden in mehr oder weniger schrägen Science-Fiction-Filmen widerfahren: Du wanderst nichts Böses ahnend irgendwo herum – und, zack!, plötzlich stehst du in einer anderen Welt. Du bist unwissentlich durch ein Wurmloch gefallen und stehst in einem parallelen Universum, oder in der Vergangenheit, oder in der Zukunft, oder in allem zugleich.



Ich bin mit der Familie, ist schon etwas her, eines Wintertags durch die Hügel bei Lamanon gelaufen. Lamanon ist ein provenzalisches Städtchen im sympathisch halbrestaurierten Zustand: Kirche, Mairie, Lavoir, ein schönes Bistrot, ein paar alte Häuser, null Aussicht – die Siedlung thront nicht auf einem Hügel, sondern versteckt sich in einem Tal. Größter Stolz von Lamanon, so las und dachte ich, ist der „Gigant der Provence“, der Methusalem der südfranzösischen Platanen, dessen Äste so weit sind wie ein Hallendach und sich altersschwer bis auf den Boden senken.
Dann gehen wir an der Kirche vorbei einen Forstweg in den Wald, der die Hügel nördlich und westlich des verschlafenen Ortes bedeckt: Eichen, Pinien, das übliche Gestrüpp. Hundert oder vielleicht zweihundert Meter geht es nach oben, du biegst um einen nackten Fels - und, zack, auf einmal stehen wir in einem anderen Universum. Nun ja, zumindest stehen wir in der Deko eines ziemlich aufwändig gemachten Fantasy-Films.
Die Grotten von Calès.



Vor dem erstaunten Wanderer ruht still und leer ein mindestens fünfzig Meter tiefes, zweihundert Meter durchmessenden, annähernd kreisförmiges Tal. Eine Riesendelle zwischen Eichen und Hügeln, die aussieht, als sei sie einst ein Vulkankrater gewesen, den sich die Natur nun langsam zurückholt. Das Licht im Talgrund ist aquariumartig, irgendwie zugleich glänzend und diffus, gefiltert von den Wipfeln der Eichen, die oben hart am Kraterrand wachsen. Der Felsen ist gelb und grau und mürbe wie altes Gebäck. Wiesen bedecken den Stein als zerschlissene Decke. Kein Windhauch, kein knackender Ast, kein Vogelzwitschern, es ist so still, als wärst du tausend Meter unter Wasser.
Aber überall starren dich Augen an.
D'accord, keine Augen – Grotten. Die steilen Wände des Talkessels sind von Höhlen zergraben, als wäre das hier ein ins Gigantische gewucherter Insektenbau: runde Löcher, viereckige Portale, torgroße Öffnungen. Manche Höhlen verlieren sich in der Schwärze, andere sind so klein, dass die Sonnenstrahlen bis in deren hintersten Winkel leuchten. Zwischen manchen runden Höhleneingängen ist nur ein schmaler Steinsteg stehengeblieben – sie gleichen frappierend den Augen eines riesenhaften Totenschädels. Und weil das Sonnenlicht durch irgendeinen optischen Trick irgendwo gespiegelt wird, wirken diese verdammten Dinger auch noch, als leuchteten sie aus ihrem Innern heraus! Zwei Augen, die dich ohne je zu blinzeln mustern, wohin auch immer du durch dieses verwunschene Tal gehst.



Wer genauer hinguckt, erkennt in den Fels geschlagene Treppenstufen. Unterarmgroße Löcher, in denen wohl einst hölzerne Leitern oder Vordächer steckten. Künstlich aufgeschichtete Mauern auf einem Plateau, gleicher Stein, gleiche Farbe, als wären die Mauern aus dem Felsen hinausgewuchert. Die wuchtigen Reste einer alten Burg. Ruinen zweier Kapellen. Und jenseits der Grotten, schon wieder gut versteckt im Wald, eine nahezu fensterlose, abweisende Kirche: Saint-Denis de Calès.
Die Grotten von Calès, von denen man im winterlichen Abenddämmer glauben möchte, dass sie auch in Mordor auf allzu neugierige Besucher lauern könnten, sind in Wahrheit Menschenwerk. Das unzugängliche Tal war vom Mittelalter an ein idealer Steinbruch. 58 Höhlen hackten, gruben, sägten die Provenzalen hier über Jahrhunderte in den relativ weichen Stein, um mit ihrer Beute Burgen, Kirchen, Bauernhäuser zu errichten. Dann allerdings, als diese Höhlen erst einmal gegraben worden waren, fiel den Einheimischen irgendwann auf, was für ein wahnsinniges Versteck Calès war: Ein Krater mitten im Wald, auch dann noch unsichtbar, wenn du zehn Meter an ihm vorbeiläufst. Und wer das Tal doch entdeckt, der kann nur durch zwei schmale Felsenrisse eindringen – Risse, die mit ein paar Steinwällen und einem Haufen Bewaffneter gegen jede Übermacht gut zu verteidigen waren.
Zu einer Zeit, als Kolumbus Amerika entdeckte und Leonardo da Vincis Glanz die Renaissance überstrahlte, haben in Calès schätzungsweise zweihundert Menschen den zivilisatorischen Salto rückwärts ins Paläolithikum gemacht und sind wieder zu Höhlenbewohnern geworden. Ein Paralleluniversum, fürwahr.



Generationenlang haben hier, von den Wirren und Kriegen der Zeit übersehen, Menschen ausgeharrt, wenn es draußen zu brutal herging. Erst die Religionskriege des späten sechzehnten Jahrhunderts machten der Höhlen-WG den Garaus. Hugenotten hatten sich hier versteckt – doch die angreifenden Katholiken kamen diesmal mit Kanonen, und gegen diese Feuerwaffen halfen dann auch keine Grotten und Felsenrisse mehr...
Seither ist Calès ein magischer, stiller, irgendwie gruseliger Ort – und leider auch nicht ganz ungefährlich. Denn dieser Talkessel, dieses einmalige Werk aus Natur und menschlicher Tat, zerfrisst sich langsam selbst. Der Stein ist zu fragil. Pinien zwingen weit gefächerte Wurzeln in schmale Risse, dann dringt Wasser ein, im Winter sinkt die Temperatur auf dem Hügel unter den Gefrierpunkt... Schließlich donnern Felsen vom Talrand oder aus der mürben Wand zu Boden. Manchmal regnet es bloß Steinchen, ab und zu mal kommt ein Brocken herunter, so groß wie ein Haus. Zerfetzte Eichen und aufgerissene Wiesen markieren die Spuren der letzten Abgänge. Ob Steinchenregen oder Felssturz, eines ist ihnen gemeinsam: es gibt kein Warnzeichen. Kein Zittern im Boden vorher, kein Rumpeln, kein verdächtiges Knacken. Urplötzlich können zwei, drei, zehn, dreißig Tonnen zu Tal donnern, und wehe dem, der dann gerade unten steht!



Seit dem 20. März 2017 ist deshalb der Besuch der Grotten von Calès offiziell verboten. Tja. Der Weg den Wald hoch ist offen, es gibt keine Sperre, kein Schloss, keine Alarmanlage, und meistens ist auch niemand zu sehen. Wer will, kann immer noch in diesen Kessel eintauchen. Auf eigene Gefahr.
Aber betreten wir nicht jedes Paralleluniversum auf eigene Gefahr?

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