Manchmal
erlebt man hier Sachen, die eigentlich nur den Helden in mehr oder
weniger schrägen Science-Fiction-Filmen widerfahren: Du wanderst
nichts Böses ahnend irgendwo herum – und, zack!, plötzlich stehst
du in einer anderen Welt. Du bist unwissentlich durch ein Wurmloch
gefallen und stehst in einem parallelen Universum, oder in der
Vergangenheit, oder in der Zukunft, oder in allem zugleich.
Ich
bin mit der Familie, ist schon etwas her, eines Wintertags durch die
Hügel bei Lamanon gelaufen. Lamanon ist ein provenzalisches
Städtchen im sympathisch halbrestaurierten Zustand: Kirche, Mairie,
Lavoir, ein schönes Bistrot, ein paar alte Häuser, null Aussicht –
die Siedlung thront nicht auf einem Hügel, sondern versteckt sich in
einem Tal. Größter Stolz von Lamanon, so las und dachte ich, ist
der „Gigant der Provence“, der Methusalem der südfranzösischen
Platanen, dessen Äste so weit sind wie ein Hallendach und sich
altersschwer bis auf den Boden senken.
Dann
gehen wir an der Kirche vorbei einen Forstweg in den Wald, der die
Hügel nördlich und westlich des verschlafenen Ortes bedeckt:
Eichen, Pinien, das übliche Gestrüpp. Hundert oder vielleicht
zweihundert Meter geht es nach oben, du biegst um einen nackten Fels
- und, zack, auf einmal stehen wir in einem anderen Universum. Nun
ja, zumindest stehen wir in der Deko eines ziemlich aufwändig
gemachten Fantasy-Films.
Die
Grotten von Calès.
Vor
dem erstaunten Wanderer ruht still und leer ein mindestens fünfzig
Meter tiefes, zweihundert Meter durchmessenden, annähernd
kreisförmiges Tal. Eine Riesendelle zwischen Eichen und Hügeln, die
aussieht, als sei sie einst ein Vulkankrater gewesen, den sich die
Natur nun langsam zurückholt. Das Licht im Talgrund ist
aquariumartig, irgendwie zugleich glänzend und diffus, gefiltert von
den Wipfeln der Eichen, die oben hart am Kraterrand wachsen. Der
Felsen ist gelb und grau und mürbe wie altes Gebäck. Wiesen bedecken den
Stein als zerschlissene Decke. Kein Windhauch, kein knackender Ast,
kein Vogelzwitschern, es ist so still, als wärst du tausend Meter
unter Wasser.
Aber
überall starren dich Augen an.
D'accord,
keine Augen – Grotten. Die steilen Wände des Talkessels sind von
Höhlen zergraben, als wäre das hier ein ins Gigantische gewucherter
Insektenbau: runde Löcher, viereckige Portale, torgroße Öffnungen.
Manche Höhlen verlieren sich in der Schwärze, andere sind so klein,
dass die Sonnenstrahlen bis in deren hintersten Winkel leuchten.
Zwischen manchen runden Höhleneingängen ist nur ein schmaler
Steinsteg stehengeblieben – sie gleichen frappierend den Augen
eines riesenhaften Totenschädels. Und weil das Sonnenlicht durch
irgendeinen optischen Trick irgendwo gespiegelt wird, wirken diese
verdammten Dinger auch noch, als leuchteten sie aus ihrem Innern
heraus! Zwei Augen, die dich ohne je zu blinzeln mustern, wohin auch
immer du durch dieses verwunschene Tal gehst.
Wer
genauer hinguckt, erkennt in den Fels geschlagene Treppenstufen.
Unterarmgroße Löcher, in denen wohl einst hölzerne Leitern oder
Vordächer steckten. Künstlich aufgeschichtete Mauern auf einem
Plateau, gleicher Stein, gleiche Farbe, als wären die Mauern aus dem
Felsen hinausgewuchert. Die wuchtigen Reste einer alten Burg. Ruinen
zweier Kapellen. Und jenseits der Grotten, schon wieder gut versteckt
im Wald, eine nahezu fensterlose, abweisende Kirche: Saint-Denis de
Calès.
Die
Grotten von Calès, von denen man im winterlichen Abenddämmer
glauben möchte, dass sie auch in Mordor auf allzu neugierige
Besucher lauern könnten, sind in Wahrheit Menschenwerk. Das
unzugängliche Tal war vom Mittelalter an ein idealer Steinbruch. 58
Höhlen hackten, gruben, sägten die Provenzalen hier über Jahrhunderte
in den relativ weichen Stein, um mit ihrer Beute Burgen, Kirchen,
Bauernhäuser zu errichten. Dann allerdings, als diese Höhlen erst
einmal gegraben worden waren, fiel den Einheimischen irgendwann auf,
was für ein wahnsinniges Versteck Calès war: Ein Krater mitten im
Wald, auch dann noch unsichtbar, wenn du zehn Meter an ihm
vorbeiläufst. Und wer das Tal doch entdeckt, der kann nur durch zwei
schmale Felsenrisse eindringen – Risse, die mit ein paar
Steinwällen und einem Haufen Bewaffneter gegen jede Übermacht gut
zu verteidigen waren.
Zu
einer Zeit, als Kolumbus Amerika entdeckte und Leonardo da Vincis
Glanz die Renaissance überstrahlte, haben in Calès schätzungsweise
zweihundert Menschen den zivilisatorischen Salto rückwärts ins
Paläolithikum gemacht und sind wieder zu Höhlenbewohnern geworden.
Ein Paralleluniversum, fürwahr.
Generationenlang
haben hier, von den Wirren und Kriegen der Zeit übersehen, Menschen
ausgeharrt, wenn es draußen zu brutal herging. Erst die
Religionskriege des späten sechzehnten Jahrhunderts machten der
Höhlen-WG den Garaus. Hugenotten hatten sich hier versteckt – doch
die angreifenden Katholiken kamen diesmal mit Kanonen, und gegen
diese Feuerwaffen halfen dann auch keine Grotten und Felsenrisse
mehr...
Seither
ist Calès ein magischer, stiller, irgendwie gruseliger Ort – und
leider auch nicht ganz ungefährlich. Denn dieser Talkessel, dieses
einmalige Werk aus Natur und menschlicher Tat, zerfrisst sich langsam
selbst. Der Stein ist zu fragil. Pinien zwingen weit gefächerte
Wurzeln in schmale Risse, dann dringt Wasser ein, im Winter sinkt die
Temperatur auf dem Hügel unter den Gefrierpunkt... Schließlich
donnern Felsen vom Talrand oder aus der mürben Wand zu Boden.
Manchmal regnet es bloß Steinchen, ab und zu mal kommt ein Brocken
herunter, so groß wie ein Haus. Zerfetzte Eichen und aufgerissene
Wiesen markieren die Spuren der letzten Abgänge. Ob Steinchenregen
oder Felssturz, eines ist ihnen gemeinsam: es gibt kein Warnzeichen.
Kein Zittern im Boden vorher, kein Rumpeln, kein verdächtiges
Knacken. Urplötzlich können zwei, drei, zehn, dreißig Tonnen zu
Tal donnern, und wehe dem, der dann gerade unten steht!
Seit
dem 20. März 2017 ist deshalb der Besuch der Grotten von Calès
offiziell verboten. Tja. Der Weg den Wald hoch ist offen, es gibt
keine Sperre, kein Schloss, keine Alarmanlage, und meistens ist auch
niemand zu sehen. Wer will, kann immer noch in diesen Kessel
eintauchen. Auf eigene Gefahr.
Aber
betreten wir nicht jedes Paralleluniversum auf eigene Gefahr?
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