Es
weht ein Hauch von Revolution durchs herbstliche Frankreich.
Erstaunlich genug, denn gemeinhin finden hier Revolutionen bei
Sonnenschein statt, im wilden Mai Soixante-huit
oder am 14. Juli, beim Urknall aller Umstürze. Denn wer friert schon
gerne bei Regen hinter der Barrikade?
Diesmal
ist es anders. Gilets
jaunes
nennt sich eine Graswurzelbewegung steuerunlustiger Wutbürger, bei
Facebook und anderswo im Digitalen spontan entstanden als Protest
bleifüßiger Durchschnittsfranzosen gegen ein paar zu viel Cents
Steuererhöhungen auf Benzin und Diesel. Vielleicht 300 000
Demonstranten in den hier gesetzlich für jeden Chauffeur
vorgeschriebenen gelben Warnwesten haben vergangenen Samstag
Autobahnzufahrten, Kreisverkehre, Gewerbegebiete und Supermärkte
blockiert. (Fragen Sie mich nicht, warum ausgerechnet ein Auchan
belagert wird, wenn man sich über Macron aufregt...)
Unsere
Kleine hatte, wie unpassend, an diesem 17. November Schulfest. Wir
kurvten deshalb auf Feld-, Wald- und sonstigen Nebenstrecken um die
gelben Westen herum nach Salon-de-Provence. Meine Frau hatte Angst,
dass unser kleines Elektroautochen von den Demonstranten als rollende
Provokation missverstanden werden könnte. Motto: „Wir scheißen
auf die Benzinpreiserhöhung, mein Auto fährt mit EDF!“ Ist aber
nix passiert. Nur am nächsten Tag mussten wir uns an der
Péage-Station von Lançon
beinahe stauen, denn die Hälfte aller Schranken war von nicht
hundertprozentig friedfertigen Gilets Jaunes demoliert worden.
Inzwischen
sickert die Bewegung so langsam aus. Nach sieben Tagen stehen aber
immer noch mal hier, mal da gelbbewestete lebende Straßensperren
herum. Zumeist sind es nun walrossschnautzbärtige, dauerwütende,
morgens um halb sechs Bier trinkende Typen, ein Menschenschlag, den
es so nur in Gallien gibt, Asterix in unsympathisch.
Bleibt's
also so wie immer: Zuerst viel Getöse, dann macht es „Pfffft“
und nachher gehen alle wieder heim? Je
ne sais pas.
Denn da ist noch etwas anderes. Die Mischung macht's, und diese
Mischung schmeckt nach Revolte.
Zum
Beispiel in Marseille.
Da
gibt's Straßen, da denkst du, du bist im Orient. Der Cours Belsunce
etwa könnte sich auch durch Algier pflügen: Cafés auf dem
Trottoir, winzige Läden mit buntester Brautmode, bisschen
schmuddelige Häuser, viel Leben. Doch dreihundert Meter weiter
erinnert die Rue d'Aubagne im Viertel Noailles, das liegt nur einen
Steinwurf hinter dem touristenbeliebten Vieux Port, an eine ganz
andere nahöstliche Stadt: an Aleppo heute.
Dort
sind am 5. November an einem friedlichen Morgen kurz vor neun Uhr
zwei mehrstöckige Mietshäuser aus dem späten 18. Jahrhundert,
Nummern 63 und 65, einfach zusammengekracht. Acht Tote, Trümmer, ein
drittes Haus musste von den Sicherheitskräften danach kontrolliert
abgerissen werden, weil es über den Köpfen der Bergungsteams auch
noch einzustürzen drohte.
Warum?
Beide Häuser waren Copropriétés,
jede Wohnung gehörte einem anderen Besitzer, geeint waren alle im
festen Willen, für ihr Haus nichts, aber auch gar nichts zu tun. Die
Klötze waren seit Jahrzehnten ungepflegt. Ein Teil des Dachs von
Nummer 63 war eingestürzt, die Wände waren in beiden Bauwerken so
verzogen, dass man manchmal die Wohnungstüren nicht mehr zuziehen
konnte, Fliesen zersprangen auf dem sich wölbenden Fußboden, und
von den Fassaden rieselten Putz und Steine. Jede Wohnung war eine
Mietwohnung, gehaust haben darin Lebenskünstler, Immigranten,
Studenten und ganz normale Arbeiter und Angestellte, die einfach eine
innenstadtnahe Bleibe finden wollten und keine andere finden konnten.
Einer, ein junger Techniker, hat, bevor er am 5. November zur Arbeit
ging, gegen 8.30 Uhr seine Wohnung in der 65 mit dem Handy gefilmt,
weil er sich später beim Vermieter beschweren wollte: Decken
barsten, in der Außenwand klafften fingerbreite Risse, das ganze
Haus rutschte schon. Er ging los zum Job – und zehn Minuten,
nachdem er die schäbige Haustür hinter sich zugezogen hatte, fiel
das Gebäude zu Trümmern. Hier sind einige seiner Aufnahmen:
Der
eigentliche, zumindest der noch größere Skandal ist aber, dass die
Nummer 63 schon seit gut zehn Jahren leer stand. Die war von Experten
der Stadt Marseille als „unsicher“ eingestuft und zwangsgeräumt
worden. Auch die Bewohner der Nummer 65 hatten die Stadtverwaltung
mit Fotos und Demarchen bombardiert. Auch dort hatte, bereits 2015,
ein Experte vor dem katastrophalen Zustand gewarnt. Nur: Geschehen
war danach nichts. Die Nummer 63 verfiel einfach vor sich hin, ein
paar Hausbesetzer hatten ihre Bleiben und Zigarettenschmuggler ihre
Depots dort eingerichtet. In der 65 wurden die Mieter diesen Herbst
einen Tag lang evakuiert, dann durften sie zurückkehren.
Alles
sei sicher, nach ein paar Reparationen, wurde ihnen gesagt.
Wahrscheinlich, das Gutachten dazu wird wohl noch lange erarbeitet
werden müssen, ist die von der Stadtverwaltung eben nicht verwaltete
63 schließlich an diesem Novembermorgen zuerst kollabiert und hat die Mauer
an Mauer gelehnte 65 mitgerissen.
Bürgermeister
Jean-Claude Gaudin, seit einer Generation im Amt, ein katholischer
Konservativer ganz alter Marseiller Schule, hat nach der Katastrophe
kühl verkündet, dass er sich „keiner Schuld bewusst“ sei. Ach
ja, und selbstverständlich kommt ein Rücktritt nicht in Frage: „Der
Kapitän gibt das Ruder nicht aus der Hand, wenn ein Sturm aufzieht.“
Als
sei ein seit Jahrzehnten von seiner eigenen Stadtverwaltung
vernachlässigtes Haus ein genauso unabwendbares Naturereignis wie
ein heraufziehender Sturm! Einer von Gaudins Beigeordneten war
übrigens Besitzer einer Höllenwohnung aus der Nummer 65, ein
anderer Beigeordneter hat ein verfallendes Drecksloch andernorts in
Marseille vermietet, für schlappe 300 Euro im Monat.
Eigentlich,
so ist danach herausgekommen, rotten nämlich in Marseille 40 000
Wohnungen vor sich hin. Nach dem Schock der Rue d'Aubagne sind
allerhastigst mehr als 100 Häuser zwangsgeräumt, mehr als tausend
Mieter zwangsevakuiert (und auf Stadtkosten in Hotels untergebracht)
worden. Selbst einer Grundschule drohte zunächst die Schließung,
weil das Dach der Pausenhalle partout auf die Kinder stürzen wollte
– was, wie sich herausstellte, auch nicht erst seit gestern bekannt
gewesen ist. Die Kinder gehen dort jetzt trotzdem weiter in den
Unterricht. Das Gebäude ist nämlich sicher, haben Experten
verkündet...
Mehr
als zehntausend wütende, traurige, die Schnauze voll habende
Marseiller haben ein paar Tage nach dem schwarzen 5. November
demonstriert, sie sind zum schicken Rathaus gezogen, das auch kaum
mehr als einen Steinwurf von den Trümmern entfernt steht. Ein
Steinwurf, ja... so wütend waren die Menschen, dass sie „Gaudin,
assassin!“
skandierten, und ganz friedlich blieb es auch da nicht. Und nebenbei
hatten sie noch Glück: Während sie noch demonstrierten, krachte ein
Balkon von einem verfallenden Bauwerk zwischen den Manifestanten auf
die Straße. So symbolträchtig-passend, das hätte sich kein
Regisseur ausdenken können, zum Glück gab es da nur drei
Leichtverletzte.
Das
ist es, was in Frankreich so brodelt: Die Leute zahlen immer mehr
Steuern, auf Benzin und auf so ziemlich alles andere auch. Sie müssen
immer mehr Gesetzen, Regeln, Vorschriften gehorchen. Aber sie
bekommen nichts dafür. Keine zusätzlichen Lehrer in den
verfallenden Schulen. Keine zusätzlichen Ärzte und
Krankenschwestern in den überlasteten Krankenhäusern. Keine
Gendarmen und Richter für die anarchischen Viertel. Und wenn im
Herzen von Frankreichs zweitgrößter Stadt Häuser verfallen, bis
sie ihre Bewohner erschlagen, dann interessiert das im Rathaus
nebenan kein Schwein, und nach dem Desaster will's auch niemand
gewesen sein.
Erinnern
wir uns: Die Revolution von 1789, die, mit der alles begann, wurde
vielleicht von hehren Idealen und großen Utopien befeuert. Aber
ausgelöst worden ist sie, weil die Leute zu viele Steuern
zahlten und so großen Hunger litten, dass sie auf dem Land
krepierten wie die Tiere. Die Königin Marie-Antoinette kommentierte
das seinerzeit mit dem Bonmot: „Wenn sie kein Brot haben, dann
sollen sie halt Kuchen essen.“ Ist das nicht schlagfertig und
witzig? Beinahe so schlagfertig und witzig wie Gaudins „Kapitän im
Sturm“.
Hören
Sie das leise Knarzen? Das kommt vom Seil, mit dem schon das Fallbeil
in der Guillotine hochgezogen wird.
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