Freitag, 23. November 2018

Ein Hauch von Revolution / Gelbwesten und Co.


Es weht ein Hauch von Revolution durchs herbstliche Frankreich. Erstaunlich genug, denn gemeinhin finden hier Revolutionen bei Sonnenschein statt, im wilden Mai Soixante-huit oder am 14. Juli, beim Urknall aller Umstürze. Denn wer friert schon gerne bei Regen hinter der Barrikade?



Diesmal ist es anders. Gilets jaunes nennt sich eine Graswurzelbewegung steuerunlustiger Wutbürger, bei Facebook und anderswo im Digitalen spontan entstanden als Protest bleifüßiger Durchschnittsfranzosen gegen ein paar zu viel Cents Steuererhöhungen auf Benzin und Diesel. Vielleicht 300 000 Demonstranten in den hier gesetzlich für jeden Chauffeur vorgeschriebenen gelben Warnwesten haben vergangenen Samstag Autobahnzufahrten, Kreisverkehre, Gewerbegebiete und Supermärkte blockiert. (Fragen Sie mich nicht, warum ausgerechnet ein Auchan belagert wird, wenn man sich über Macron aufregt...)
Unsere Kleine hatte, wie unpassend, an diesem 17. November Schulfest. Wir kurvten deshalb auf Feld-, Wald- und sonstigen Nebenstrecken um die gelben Westen herum nach Salon-de-Provence. Meine Frau hatte Angst, dass unser kleines Elektroautochen von den Demonstranten als rollende Provokation missverstanden werden könnte. Motto: „Wir scheißen auf die Benzinpreiserhöhung, mein Auto fährt mit EDF!“ Ist aber nix passiert. Nur am nächsten Tag mussten wir uns an der Péage-Station von Lançon beinahe stauen, denn die Hälfte aller Schranken war von nicht hundertprozentig friedfertigen Gilets Jaunes demoliert worden.
Inzwischen sickert die Bewegung so langsam aus. Nach sieben Tagen stehen aber immer noch mal hier, mal da gelbbewestete lebende Straßensperren herum. Zumeist sind es nun walrossschnautzbärtige, dauerwütende, morgens um halb sechs Bier trinkende Typen, ein Menschenschlag, den es so nur in Gallien gibt, Asterix in unsympathisch.
Bleibt's also so wie immer: Zuerst viel Getöse, dann macht es „Pfffft“ und nachher gehen alle wieder heim? Je ne sais pas. Denn da ist noch etwas anderes. Die Mischung macht's, und diese Mischung schmeckt nach Revolte.
Zum Beispiel in Marseille.



Da gibt's Straßen, da denkst du, du bist im Orient. Der Cours Belsunce etwa könnte sich auch durch Algier pflügen: Cafés auf dem Trottoir, winzige Läden mit buntester Brautmode, bisschen schmuddelige Häuser, viel Leben. Doch dreihundert Meter weiter erinnert die Rue d'Aubagne im Viertel Noailles, das liegt nur einen Steinwurf hinter dem touristenbeliebten Vieux Port, an eine ganz andere nahöstliche Stadt: an Aleppo heute.
Dort sind am 5. November an einem friedlichen Morgen kurz vor neun Uhr zwei mehrstöckige Mietshäuser aus dem späten 18. Jahrhundert, Nummern 63 und 65, einfach zusammengekracht. Acht Tote, Trümmer, ein drittes Haus musste von den Sicherheitskräften danach kontrolliert abgerissen werden, weil es über den Köpfen der Bergungsteams auch noch einzustürzen drohte.
Warum? Beide Häuser waren Copropriétés, jede Wohnung gehörte einem anderen Besitzer, geeint waren alle im festen Willen, für ihr Haus nichts, aber auch gar nichts zu tun. Die Klötze waren seit Jahrzehnten ungepflegt. Ein Teil des Dachs von Nummer 63 war eingestürzt, die Wände waren in beiden Bauwerken so verzogen, dass man manchmal die Wohnungstüren nicht mehr zuziehen konnte, Fliesen zersprangen auf dem sich wölbenden Fußboden, und von den Fassaden rieselten Putz und Steine. Jede Wohnung war eine Mietwohnung, gehaust haben darin Lebenskünstler, Immigranten, Studenten und ganz normale Arbeiter und Angestellte, die einfach eine innenstadtnahe Bleibe finden wollten und keine andere finden konnten. Einer, ein junger Techniker, hat, bevor er am 5. November zur Arbeit ging, gegen 8.30 Uhr seine Wohnung in der 65 mit dem Handy gefilmt, weil er sich später beim Vermieter beschweren wollte: Decken barsten, in der Außenwand klafften fingerbreite Risse, das ganze Haus rutschte schon. Er ging los zum Job – und zehn Minuten, nachdem er die schäbige Haustür hinter sich zugezogen hatte, fiel das Gebäude zu Trümmern. Hier sind einige seiner Aufnahmen:



Der eigentliche, zumindest der noch größere Skandal ist aber, dass die Nummer 63 schon seit gut zehn Jahren leer stand. Die war von Experten der Stadt Marseille als „unsicher“ eingestuft und zwangsgeräumt worden. Auch die Bewohner der Nummer 65 hatten die Stadtverwaltung mit Fotos und Demarchen bombardiert. Auch dort hatte, bereits 2015, ein Experte vor dem katastrophalen Zustand gewarnt. Nur: Geschehen war danach nichts. Die Nummer 63 verfiel einfach vor sich hin, ein paar Hausbesetzer hatten ihre Bleiben und Zigarettenschmuggler ihre Depots dort eingerichtet. In der 65 wurden die Mieter diesen Herbst einen Tag lang evakuiert, dann durften sie zurückkehren.
Alles sei sicher, nach ein paar Reparationen, wurde ihnen gesagt. Wahrscheinlich, das Gutachten dazu wird wohl noch lange erarbeitet werden müssen, ist die von der Stadtverwaltung eben nicht verwaltete 63 schließlich an diesem Novembermorgen zuerst kollabiert und hat die Mauer an Mauer gelehnte 65 mitgerissen.
Bürgermeister Jean-Claude Gaudin, seit einer Generation im Amt, ein katholischer Konservativer ganz alter Marseiller Schule, hat nach der Katastrophe kühl verkündet, dass er sich „keiner Schuld bewusst“ sei. Ach ja, und selbstverständlich kommt ein Rücktritt nicht in Frage: „Der Kapitän gibt das Ruder nicht aus der Hand, wenn ein Sturm aufzieht.“
Als sei ein seit Jahrzehnten von seiner eigenen Stadtverwaltung vernachlässigtes Haus ein genauso unabwendbares Naturereignis wie ein heraufziehender Sturm! Einer von Gaudins Beigeordneten war übrigens Besitzer einer Höllenwohnung aus der Nummer 65, ein anderer Beigeordneter hat ein verfallendes Drecksloch andernorts in Marseille vermietet, für schlappe 300 Euro im Monat.



Eigentlich, so ist danach herausgekommen, rotten nämlich in Marseille 40 000 Wohnungen vor sich hin. Nach dem Schock der Rue d'Aubagne sind allerhastigst mehr als 100 Häuser zwangsgeräumt, mehr als tausend Mieter zwangsevakuiert (und auf Stadtkosten in Hotels untergebracht) worden. Selbst einer Grundschule drohte zunächst die Schließung, weil das Dach der Pausenhalle partout auf die Kinder stürzen wollte – was, wie sich herausstellte, auch nicht erst seit gestern bekannt gewesen ist. Die Kinder gehen dort jetzt trotzdem weiter in den Unterricht. Das Gebäude ist nämlich sicher, haben Experten verkündet...
Mehr als zehntausend wütende, traurige, die Schnauze voll habende Marseiller haben ein paar Tage nach dem schwarzen 5. November demonstriert, sie sind zum schicken Rathaus gezogen, das auch kaum mehr als einen Steinwurf von den Trümmern entfernt steht. Ein Steinwurf, ja... so wütend waren die Menschen, dass sie „Gaudin, assassin!“ skandierten, und ganz friedlich blieb es auch da nicht. Und nebenbei hatten sie noch Glück: Während sie noch demonstrierten, krachte ein Balkon von einem verfallenden Bauwerk zwischen den Manifestanten auf die Straße. So symbolträchtig-passend, das hätte sich kein Regisseur ausdenken können, zum Glück gab es da nur drei Leichtverletzte.

Das ist es, was in Frankreich so brodelt: Die Leute zahlen immer mehr Steuern, auf Benzin und auf so ziemlich alles andere auch. Sie müssen immer mehr Gesetzen, Regeln, Vorschriften gehorchen. Aber sie bekommen nichts dafür. Keine zusätzlichen Lehrer in den verfallenden Schulen. Keine zusätzlichen Ärzte und Krankenschwestern in den überlasteten Krankenhäusern. Keine Gendarmen und Richter für die anarchischen Viertel. Und wenn im Herzen von Frankreichs zweitgrößter Stadt Häuser verfallen, bis sie ihre Bewohner erschlagen, dann interessiert das im Rathaus nebenan kein Schwein, und nach dem Desaster will's auch niemand gewesen sein.



Erinnern wir uns: Die Revolution von 1789, die, mit der alles begann, wurde vielleicht von hehren Idealen und großen Utopien befeuert. Aber ausgelöst worden ist sie, weil die Leute zu viele Steuern zahlten und so großen Hunger litten, dass sie auf dem Land krepierten wie die Tiere. Die Königin Marie-Antoinette kommentierte das seinerzeit mit dem Bonmot: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie halt Kuchen essen.“ Ist das nicht schlagfertig und witzig? Beinahe so schlagfertig und witzig wie Gaudins „Kapitän im Sturm“.
Hören Sie das leise Knarzen? Das kommt vom Seil, mit dem schon das Fallbeil in der Guillotine hochgezogen wird.

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