In
der Provence sind auch einige richtig häßliche Flecken verborgen.
Die kann man weitläufig meiden – oder man verliebt sich in sie.
Der Étang de Berre, zum Beispiel, ist so ein häßlicher Fleck. Und
ich, zum Beispiel, bin einer von den Typen, die diesen häßlichen
Flecken trotzdem fantastisch finden.
Der
Étang de Berre zwischen Marseille und der Camargue ist der größte
Brackwassersee Europas. „Brackwasser“, das klingt schon mal
scheiße. Tatsächlich ist das ein See, oder eine geschützte Bucht
oder was auch immer, gespeist vom Mittelmeer sowie von der Durance,
dem zweitgrößten Fluss Südfrankreichs (und von einigen Bächen
dazu). Von Nord nach Süd ist der Étang ungefähr zwanzig Kilometer
lang, die West-Ost-Ausdehnung beträgt gut sechzehn Kilometer, fast
überall ist er zwischen zwei und sechs Meter tief – eine ziemlich
große, ziemlich flache Scheibe Wasser also.
Bis
vor wenigen Jahrzehnten war der Étang de Berre ein in der Alten Welt
wohl einzigartiges Biotop, eine Art freiere Variante der Camargue:
mehr Wasser, mehr Luft, noch mehr Licht. An die feuchte Umgebung
hatten sich zahllose Fische, Muscheln und Vögel angepasst. Flamingos
segelten über den Spiegel der Wellen. Schilfgürtel säumten die
Ufer, so dass man kaum sagen mochte, wo das Land aufhörte und das
Wasser begann. Ein paar pinienbekrönte Hügelketten, kaum eine Kuppe
höher als einhundert Meter, schützten diese Welt vor den ärgsten
Exzessen des Mistral. Der Meereszugang bei Martiuges wiederum war so
eng, dass sich auch Wellen und andere Unbilden des Ozeans hier nur in
homöopathischen Größen bemerkbar machten.
Dann
wurde der Étang de Berre geopfert, sehenden Auges und kalten
Herzens.
Planer
der Regierung – in Frankreich ist die Regierung traditionell der
wichtigste Player in der dann doch nicht ganz so freien
Marktwirtschaft – haben das Biotop, zumindest dessen südliche
Hälfte, in den sechziger und siebziger Jahren gnadenlos umgepflügt.
Bei Marignane wurde, zum Beispiel, der Flughafen Marseille-Provence
wortwörtlich ins flache Wasser hineingesetzt. Nebenan wuchsen die
Werkshallen von Airbus Helicopter hoch (Ex-Eurocopter), dem größten
Hubschrauberhersteller der Welt. Um Berre, La Fare und Martigues
legte sich ein, wortwörtlich, erstickender Ring
ultrahäßlicher und teilweise ultragefährlicher Raffinerien. Und
zwischen Flughafen und Industrien breitete sich eine Gewerbesteppe
aus Tankstellen, ramschigen Baumärkten und drittklassigen
Diskotheken aus.
Folge:
Die Luft war zum Kotzen, das Wasser auch und in Reiseführern wurde
der Étang de Berre entweder ignoriert oder ähnlich freundlich
beschrieben wie Seveso und Bophal.
Die
nördliche Hälfte jedoch ist nie angetastet worden. Hier ist der
Étang eine Welt der unterarmgroßen Fische geblieben, die, warum
auch immer, aus dem Wasser springen und sich klatschend zurückfallen
lassen. Eine Welt, in der Miesmuscheln wuchern, in der drei, vier
Meter hohe Schilfwälder rauschen und Pinien duften, in der Schwäne
und Enten brüten und in der die Menschen bloß bescheidene Plätze
einnehmen: Miramas-le-Vieux etwa ist eine mittelalterliche
Ruinenstadt, die von einigen Restaurantbetreibern, Galeristen und
einem genialen Eiscafé erobert worden ist. Neben Istres hängen
versteckte Villen an der steilen Küste, als wäre das die Côte
d'Azur vor der Erfindung des Massentourismus. Und Saint Chamas ist
ein sympathisch-schredderiger Fischerort geblieben, in dessen kleinem
Yachthafen ein schredderiger Segler dümpelt – mit dem ich gerne
in, nun ja, hohe See steche.
Seit
ungefähr zwanzig Jahren kämpfen Naturschützer und Lokalpolitiker
zäh um diese 15500 Hektar malträtiertes Feuchtbiotop. Und langsam,
ganz langsam, scheinen sie diesen Kampf tatsächlich zu gewinnen. Ihre besten Verbündeten sind ... Wirtschaftskrise und Olympia.
In
der Wirtschaftskrise seit 2007ff. sind beispielsweise die Raffinerien
implodiert. Ungefähr die Hälfte hat schon dichtgemacht, oft sind
Tanks und Rohrleitungen und der ganze Schmu bereits restlos demontiert
worden.
Und
zugleich bewirbt sich Paris als Austragungsort für die Olympischen
Spiele. Sollte die Kapitale tatsächlich den Zuschlag erhalten –
dann wird der Étang de Berre Olympiarevier, für manche Segler und
Ruderer und andere Wassersportler nämlich. Und nun pumpen Planer in
Paris, die einst diese Welt zerlegten, Geld und Knowhow hinein, um sie
wieder zusammenzuflicken.
Inzwischen
ist das Wasser im Étang de Berre unfassbarerweise schon wieder
sauberer als vor vielen Badestränden des Mittelmeeres. Es ist ein
Riesenspaß, mit meinem Seelenverkäufer bis in Sicht- und Duftweite
einiger Pinien zu segeln, dort den Anker zu werfen und in die Wellen
zu springen. Es ist ein Riesenspaß, in Miramas-le-Vieux ein
Rieseneis zu schlabbern und dabei der Sonne über der silbrigen
Seescheibe beim Untergehen zuzusehen. Es ist ein Riesenspaß, am
Samstagmorgen über den Markt von Saint Chamas zu schlendern, wo ich
von eingelegten gewürzten Oliven bis zu antiquarischen Krimis fast
den ganzen Grundbedarf meines Metabolismus decken kann.
Und,
hey, es ist ein Riesenspaß, im Boot ganz still über den Étang de
Berre zu gleiten und plötzlich schießen einige lachsfarbene Pfeile
über deinen Kopf dahin: Flamingos, die wieder in eleganter Formation
über die Welle fliegen, als hätte sie hier nie irgendetwas gestört.
P.S.: Inzwischen hat das Internationale Olympische Komitee Paris den Zuschlag gegeben! Und Los Angeles auch! Äh, tja, jetzt muss sich bloß noch entscheiden, ob der Étang de Berre in sieben oder in elf Jahren Segler, Surfer und Ruderer auf seinen sanften Wellen trägt. Tragen wird er sie...
http://www.lemonde.fr/sport/article/2017/07/12/jo-2024-paris-et-los-angeles-vont-devoir-s-entendre_5159451_3242.html
P.S.: Inzwischen hat das Internationale Olympische Komitee Paris den Zuschlag gegeben! Und Los Angeles auch! Äh, tja, jetzt muss sich bloß noch entscheiden, ob der Étang de Berre in sieben oder in elf Jahren Segler, Surfer und Ruderer auf seinen sanften Wellen trägt. Tragen wird er sie...
http://www.lemonde.fr/sport/article/2017/07/12/jo-2024-paris-et-los-angeles-vont-devoir-s-entendre_5159451_3242.html
Hallo Cay,
AntwortenLöschenderzeit plane ich gerade ein Ferienwohnung in Istres für meine Söhne und mich zu buchen. Nun findet man nicht gerade viel im Netz über Urlaub dort in der Gegend. Ist es deiner Meinung nach realistisch, dort einen schönen Urlaub mit relaxen, baden (auch im Meer), Natur und Orte geniessen, zu verbringen? Würde mich echt über ein paar Tipps freuen oder gegebenenfalls den Rat, mich eher woanders umzuschauen.
Viele Grüße Astrid
Bin bei meiner Recherche über die Gegend einzig auf diesen Bericht von dir gestoßen...
LöschenWir waren gerade am etang
LöschenWollte gerade die Wasser Qualität checken
Also heute war das eine braune Brühe welche auch unangenehm roch
Habe mich nicht ins Wasser getraut
Hätte mir vielleicht was geholt
Jürgen
Vielen Dank Jürgen. Nach einigen Recherchen und nach deiner Nachricht habe ich mich nun dagegen entschieden. Das Risiko ist mir doch zu groß.
LöschenViele Grüße
Astrid
Liebe Astrid, es tut mir leid, dass ich erst jetzt antworte, ich war auf Achse. Für einen richtig schönen Urlaub empfehle ich Dir eher die Cote Bleue (Sausset, Ensues etc.) Beste Grüße, Cay
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