Niolon
ist ein winziges Fischerdorf an der Côte
Bleue, ein Paradies für Segler, Schnorchler, Wanderer, Kletterer –
und die Jungs und Mädels vom Bund der Steuerzahler.
Steuereintreiber
arbeiten im zweitältesten Gewerbe der Welt, und wahrscheinlich
werden selbst im ältesten Gewerbe die Einnahmen nicht so üppig
verschwendet wie die Steuergelder. Und Niolon nun, jenes verlorene
Kaff im Windschatten von Marseille, bietet ein besonders grandioses,
wahnwitziges und heute fantastisch malerisches Beispiel dafür, wie
ein Staat, nein, wie gleich zwei Staaten in zwei Jahrhunderten mal so
richtig, richtig viel Geld für nichts verbrennen konnten.
Die
Côte
Bleue ist, Nautiker und Geographen mögen mir diese gröbste
Vereinfachung nachsehen, jener doppelt geschwungene, einige Dutzend
Kilometer lange Küstenbogen zwischen Marseille und dem Saum der
Camargue. Felsen, so rau, dass sie beim Klettern die Hände
aufreißen, wachsen hier fünfzig, hundert Meter aus dem Mittelmeer,
werfen sich zu Steilküsten auf, falten sich in schmalste Buchten
zusammen, rollen kilometerweit landeinwärts und haben dabei die
Garrigue als Kopftuch übergezogen, ein karger Stoff aus Gesträuch
und ein paar zähen Pinien. Kein Boden für Getreide oder Wein, nicht
einmal Olivenbäume fressen sich in diesen Grund. Kaum Trassen für
Wege oder gar Straßen. Kaum ein Flecken ebenes Grundstück, auf dem
man wenigstens eine Hütte errichten könnte.
So
ist die Côte
Bleue Jahrhunderte lang eine Art Mecklenburg-Vorpommern der Provence
gewesen: karg und leer und arm und unbedeutend und ganz am Rand
gelegen. Ein paar Fischer haben sich in Buchten wie der von Niolon
niedergelassen, die mit flachen kleinen Booten sehr gut, sonst aber
so gut wie gar nicht zu erreichen waren. Die Côte
Bleue war eine Steppe, eingeklemmt zwischen Mittelmeer und Provence.
Dann
kamen die Preußen.
Das
heißt: die Preußen kamen nicht. Aber sie hätten kommen können.
Oder sie hätten kommen können wollen. Oder statt der Preußen
hätten andere kommen können wollen. Oder ... putain,
die Geschichte ist kompliziert, geht aber im Prinzip so: 1871
verliert Frankreich den Krieg gegen Preußen-Deutschland. Bismarck
und Wilhelm I. im Spiegelsaal zu Versailles, Katzenjammer in Paris.
So eine Schlappe sollte nie, nie, nie wieder vorkommen. Die Lösung?
Festungen!
Nach
1871 hat sich die Dritte Republik einen Panzer aus Bunkern und Forts
umgeschnallt, moderne Burgen aus Beton und Stein, gespickt mit
MG-Stellungen und großkalibrigen Kanonen, aber, wie einstens zur
Ritterzeit, noch immer geschützt mit Mauern und Gräben. In Verdun,
zum Beispiel, sind dann tatsächlich im nächsten Krieg beim Ringen
um eben jene Festungen Zehntausende verblutet.
Aber
an der Côte
Bleue? Mais
oui!
Marseille ist eine große Stadt, ein bedeutender Hafen. Da mag ein
Feind herangerauscht kommen. Aber sollte Monsieur Bismarck mit seinen
Pickelhauben zukünftig über das Mittelmeer wandeln, dann aber, ja
dann!, dann wird man ihn mit einem Feuerwerk empfangen...
Und
so haben Pioniere, Ingenieure, Arbeiter westlich und östlich von
Marseille - und auf den Inseln mitten in der Bucht auch noch dazu -
im späten 19. Jahrhundert Forts auf die Felskuppen gepflanzt. Und
kaum eines war so mächtig wie das hundert Meter über eben jenem
verschlafenen Fischerdorf Niolon. Eine Batterie mit sechs
panzerbrechenden Geschützen, Laufgräben, Munitionskammern,
Schlafsäle, Küchen, türkische Toiletten und Offiziersmessen, alles
wurde binnen weniger Jahre in der Garrigue errichtet, mit Granaten
und Vorräten bestückt, mit Uniformierten bemannt.
Allein,
welche Überraschung: Die Preußen haben bei ihren verdammten Kriegen
niemals den Umweg übers Mittelmeer genommen...
Keinen
Schuss hat die mit solchen unendlichen Mühen und mit wahrscheinlich
beinahe unendlich viel Steuergeldern errichtete Festung von Niolon je
auf einen Feind abgegeben, nicht einmal einen lächerlichen kleinen
Warnschuss. Nichts, rien,
es hat sich niemals ein Feind in diese Ecke verirrt.
Oder
besser: Irgendwann hat sich der Feind denn doch verirrt, aber er kam
leider aus einer Richtung, in die man die schweren Geschütze gar
nicht hätte schwenken können. Der Feind kam nämlich vom Norden her
durch die Büsche spaziert, statt in die Bucht hinein zu dampfen und
sich dort gefälligst versenken zu lassen.
Im
Zweiten Weltkrieg ist die Wehrmacht bekanntlich ganz konventionell
über Land ins Land gekommen. (Warum gibt es in Frankreich so viele
Alleen? Damit die deutschen Truppen im Schatten marschieren können.)
Doch als die Stahlhelme – nach einer gewissen Schamfrist wegen des
Vichy-Regimes – Südfrankreich schließlich besetzt hatten, da
haben sie, jawoll, 1942ff. auf die alte und inzwischen technisch
überholte Festung von Niolon einfach neue Bunker draufgesetzt.
Wortwörtlich. Die Wehrmacht hat Betondächer auf das alte Fort
gegossen, schwer gepanzerte Stellungen kurzerhand ein Stockwerk auf
die alten Strukturen gesetzt und über die Stahlringe, auf denen sich
die französischen, nun obsoleten Geschütze drehten, neue Stahlringe
gelegt, in denen sich die deutschen Geschütze drehten.
Und
niemals schossen.
Denn,
tja, 1944 kam zwar der Feind, aber irgendwie kam er nicht übers
Meer, das heißt, eigentlich kamen die Alliierten schon auch über
das Mittelmeer, aber irgendwie nicht schussfertig, auf jeden Fall
nicht so, dass von Niolon aus das Feuer hätte eröffnet werden
können, sollen, müssen und, hach, die Geschichte ist halt
kompliziert.
Seither
jedenfalls erhebt sich auf einem malerischen Felsen inmitten der
malerischen Garrigue hoch über der malerischen Bucht von Marseille
und dem malerischen Fischerdorf Niolon eine, na ja, immerhin
bemalte Kriegsruine. Für den Aufbau der Festung war Steuergeld da,
für den Abbau niemals. Seit Jahrzehnten nun modert und bröckelt das
Fort von Niolon vor sich hin, ein Paradies für Graffiti-Sprayer und
Leute, die gerne am Lagerfeuer sitzen und Bier trinken. Eine Ruine
von Größenwahn und Paranoia aus jener finsteren Epoche, wegen der
man danach die Europäische Union erfunden hat. (Wird heute gerne
wieder vergessen.)
Diesen
Winter sind wir, eher zufällig, innerhalb von ein paar Tagen gleich
zweimal dorthin gestiegen. Von Niolons Hafen geht es einen
wadenbeißend steilen Weg hinauf, durch die Garrigue ist es länger
und entspannter. Der Mistral hat sich so sehr ausgetobt, dass uns die
Tränen kamen. Das Fort ist eingefallen, gelinde überwuchert,
meistens reichlich verlassen. Kein Museum, kein Denkmal, einfach ein
paar Trümmer, die in der Landschaft herumstehen. Mauer und Graben
erfüllen noch immer ganz gut ihren Zweck – man kommt in den
verdammten Klotz gar nicht so einfach hinein.
(Verraten
Sie nicht, dass Sie es von mir haben: Es liegen, warum auch immer,
ein paar verbogene, längst vergessene Absperrgitter vor dem Fort. An
einer Stelle in der Marseille zugewandten Seite hat der Zahn der Zeit
bereits eine Bresche in die Mauer genagt. Da legt man die
Absperrgitter hochkant an und klettert über diese nicht
hundertprozentig sichere, improvisierte Leiter hinein. Im Innern ist
auch nichts kindergesichert: Manche Räume sind düster, andernorts
sind die Böden stellenweise eingebrochen und niemand kann
garantieren, dass die von der salzhaltigen Luft zerfressenen
Betondecken über Ihrem Kopf ewig halten werden...)
Eine
Betontreppe hat uns denn auch bis zur allerhöchsten Stellung
geführt, dem deutschen Bunker auf dem französischen Bunker. Die
Treppe war nach all den Jahrzehnten noch erstaunlich in Ordnung, nur
leider sehr schmal und dem leider mit etwa hundert Stundenkilometer
wehenden Mistral voll ausgesetzt. Und irgendwie hatten die deutschen
Pioniere es seinerzeit nicht für nötig gehalten, ein Geländer an
die Stufen zu schrauben. So mussten wir, um nicht in die Tiefe
geblasen zu werden wie lästige Staubflocken, auf allen Vieren
über die Treppe hochkriechen.
Et
voilà!
Irgendwann zahlt sich jede Steuerverschwendung aus, wird jede Festung
zur Idylle und jeder Wahntraum zum genialen Standpunkt. Von Niolons
Fort schweift der Blick des unerschrockenen Besuchers nämlich auf
die Bucht, ein Blick, wie ihn früher nur ein paar Kanoniere gehabt
haben: Das Meer ist so blau, dass man schreien möchte vor Glück,
der Wind schickt silberne Wellen über das Wasser, der freigewaschene
Himmel lässt einen wieder an Gott glauben und am Horizont leuchtet
Marseille.
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