Sollten
jemals Aliens Mitte Dezember die Erde ansteuern, dann werden sie
garantiert in der Provence landen. Denn zu aaahhh, voilà, Noël!
erstrahlt noch das hinterletzte mittelalterliche Kaff in
LED-Kaskaden, die bis zu Alpha Centauri leuchten. Ich vermute, dass
das, was den Leuten heute an Glauben fehlt, in Lichterketten
wettgemacht wird. Je atheistischer die Bürgerschaft, desto
bombastischer der Christschmuck auf, über und neben den Straßen.
(Nirgendwo blinken so viele Bethlehemsterne und Weihnachtsmänner
über dem Asphalt wie in den von Kommunisten regierten Städten am
Étang de Berre.)
Dabei
gedieh in der Provence Jahrhunderte lang eine Tradition (und sie
gedeiht glücklicherweise noch immer), die viel intimer,
freundlicher, ja sogar, eher untypisch für Weihnachten, viel
witziger ist als sonst irgendwo in Europa: die der crèche,
der guten, alten Krippe.
Die
meisten Familien hier stellen jedes Jahr eine crèche
auf: Ein provenzalisches Haus, ein Stall, vielleicht ein Turm, eine
Brücke, manchmal ein ganzes Dorf mit Marktplatz und Fischerhafen.
Die Gebäude sind heute aus Ton gefertigt, früher wurden sie aus
allen möglichen Materialen zusammengebastelt. Wir richten uns stets
eine inzwischen ramponierte Holz-und-Stroh-Konstruktion eines, soweit
wir uns noch erinnern können, Großvaters ein, die irgendwie auf uns
gekommen ist. Sie hat sogar eine Glühbirne von Anno Tuff mit zwei
stromführenden Drähten, die jedem Feuerwehrmann die Tränen in die
Augen treiben würden. Zwischen die Gebäude legen wir Moosplatten.
Das Moos wird in ungefähr handgroßen Stücken aus dem Wald geholt,
es wächst auf Erdflächen und Steinen nahe am Bach – jedes Jahr an
unterschiedlichen Orte und unterschiedlicher Qualität, je nachdem,
wie trocken die vergangenen Monate gewesen sind.
Darauf
stellen wir – vor allem unsere Jüngste, die das voller Hingabe tut
– die Santons, von santoun,
dem „kleinen Heiligen“. Santons sind Tonfiguren zumeist
provenzalischer Allerweltsgestalten, die sich der Heiligen Familie
mehr oder weniger andachtsvoll nähern. Die Arlésienne in ihrer
prachtvollen Tracht etwa, ein Angler, ein Blinder, der von einem
Jungen geführt wird, der Holzschlepper, das Fischweib...
Inzwischen
haben auch moderne Bürger das Recht, zum Jesuskind zu pilgern, der
Herr Bürgermeister, der Tourist, der Fotograf, sogar ein
Geistlicher. (Kreuz am Hals zur Geburt des Heilands, wer hat gesagt,
dass Santons etwas mit Logik zu tun haben müssen?)
Die
kleinen Santons – so, wie sie bei uns in die Krippe passen – sind
fingergroß und bunt bemalt. Die Luxusmodelle – unterarmhoch oder
manchmal in Kleinkindgröße gar – sind zusätzlich in erlesenste
Stoffe gekleidet, Waagen oder Angeln, die sie mit sich führen, sind
winzige Repliken echter Geräte, in den bemalten Gesichtern kannst du
die Lachfalten zählen.
Woher
kommt's? Aus dem Mittelalter, vielleicht. Da sind crèches
vivantes überliefert,
„lebende Krippen“: die Gläubigen haben die Geburtsszene
nachgestellt. Später haben sie Figuren hingestellt – vor allem in
Kirchen. In Marseille sind große Krippen spätestens für das letzte
Viertel des 18. Jahrhunderts überliefert.
Dann
kam die Französische Revolution, die Kirchen wurden von der streng
laizistischen Regierung geschlossen, Schluss war's mit der
Krippenpracht. Doch die Bauern – erzkatholisch, grundsätzlich
rebellisch und nicht ganz unkreativ – haben daraufhin heimlich aus
Brotteig Santons geformt. Als der ausgehärtet war, wurde er bemalt,
die Figuren wurden um selbst gezimmerte Krippen arrangiert und –
voilà
- in Bauernhäusern wuchsen allüberall zu Weihnachten nun kleine
Krippen heran.
Später
kam Napoleon und auch die Kirche kam zurück, aber die Bauern haben
von ihrer einmal erprobten Tradition nicht mehr ablassen wollen.
Seither stehen in der Provence die Santons in der guten Stube und,
so will es eine andere Tradition, seither sollte jede Familie zu
jedem Weihnachtsfest genau eine weitere Figur dazustellen.
Die
Provence wäre allerdings nicht die Provence, wenn es dabei
weihnachtlich-friedlich abgehen würde. Gerade um die harmlosen
Santons sind in den letzten Jahren zwei wilde Gefechte entbrannt.
Zum
einen werden Santons seit 1803 nicht länger heimlich, sondern
offiziell in der Provence hergestellt, aus Ton, von relativ wenigen
hoch geachteten Spezialisten ihrer Zunft, die sich ihre Kunst auch
hoch bezahlen lassen. Doch zunehmend tauchen nun in Supermärkten und
Gartencentern Santons zum halben Preis auf, auch aus Ton, gar nicht
schlecht gemacht, nur eben viel billiger. Woher? Es sind Figuren aus
dem erzkatholischen Tunesien...
Die
Bauern hier stoppen ja manchmal spanische Lastwagen auf der Autobahn
und kippen tonnenweise Tomaten auf den Asphalt, um so
jakobinisch-energisch gegen Billigkonkurrenz zu protestieren. Meines
Wissens sind noch keine tunesischen Santons in Großaktionen
zertrampelt worden, aber das wird sicher noch kommen. Die hiesigen
Santonniers jedenfalls hegen schon einen Groll, Petitionen werden
geschrieben, und bald wird es handgreiflich werden zum Fest des
Friedens, wenn sich globalisierungsbedrohte Heiligenhersteller mit
nordafrikanischen Globalisierungsprofiteuren prügeln. Könnte eine
neue Tradition werden.
Ob
die Bürgermeister eingreifen werden? Wohl kaum, denn die führen
einen zweiten Santon-Krieg. In vielen provenzalischen Rathäusern
wurden nämlich auch jedes Jahr Krippen aufgestellt – bis 2015. Da
ist jemandem in Paris aufgefallen, dass Krippen ja christlich sind
und mithin als religiöse Symbole in einem staatlichen, also
laizistischen Gebäude gefälligst nichts zu suchen haben. Also
keine Krippen im Rathaus mehr...
Und
dieses Jahr? Sagen wir so: Die bäuerliche Lust an der Rebellion ist
noch nicht ganz vergessen. In fast allen Rathäusern stehen im Winter
2016, trotz ministeriellen Verbots, wieder Blinde und Angler,
Marktfrauen und freche Kinder in provenzalischen Kulissen vor einer
Krippe und warten auf das Wunder der Geburt.
In
diesem Sinne: Joyeux Noël!
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