In
Frankreich werden Gesetze gemacht, die jeden von uns zum Verbrecher
machen – weil man gar nicht anders kann, als sie zu brechen.
Sofort. Immer wieder. Und nicht unbedingt zum Vergnügen.
Eigentlich
geht das Klischee doch so: Der Franzose in seiner Schlechthinnigkeit
mit Baskenmütze, Baguette und Blondes lässt Fünfe aus Prinzip
gerade sein, verspottet verschmitzt die Obrigkeit und legt Gesetze,
Vorschriften, überhaupt Regeln aller Art souverän großzügig aus.
Eigentlich schade, dass einem solche Leute im echten französischen
Leben so selten über den Weg laufen.
Die
Sache ist nämlich ganz anders, nehmen wir dazu ein scheinbar eher
harmloses Beispiel. Eine gefühlte Ewigkeit lang hatten die Schüler
hier jeden Mittwoch frei. Seit 2014 nun müssen die Eleven – außer
die von wenigen Privatschulen – auch mittwochs in den Schulen
pauken. Diese Reform, die Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem
von ihrem Amtsvorgänger geerbt hatte, hat zum eigentlichen
Ziel, die Rabauken aus den Hochhausvorstädten auch am Mittwoch von
den Straßen zu holen. Das ist ja ein durchaus nachvollziehbares und
eigentlich auch ehrenwertes Ziel, aber irgendwie schmeckt das doch
nach Diskriminierung und Verachtung und allgemeiner Ratlosigkeit.
Also ist das offizielle Ziel nicht das eigentliche: Offiziell
soll mit der Einführung des Mittwochsunterrichts nämlich die
Qualität der Schulbildung verbessert werden.
Hören
sie das leise Knirschen von Metallfedern? Die gefährliche
französische Gesetzes-Falle wird aufgespannt...
Denn,
klar, der Staat hat keinen Euro mehr. Die Lehrer, die nun am Mittwoch
arbeiten, arbeiten dafür nicht mehr an bestimmten Nachmittagsstunden
der übrigen Tage. So muss niemand eine zusätzliche Schulstunde
bezahlen. Mais, merde! Dann sind die Rabauken aus den
Hochhäusern zwar mittwochs unsichtbar, lungern dafür an allen
anderen Tagen früher auf dem Trottoir und verkaufen Drogen. Was tun?
Eh
bien. Die wegfallenden Nachmittagsstunden sollen nun von neu
eingestellten Kräften ausgefüllt werden. Diese neuen Kräfte, wie
schön, will jedoch der Staat nicht bezahlen, die werden von den
jeweiligen Städten bezahlt. Wie? Ist das Problem der Städte. Das
Knirschen ist übrigens die inzwischen höchst gespannte Falle.
Nachmittags
soll es nun Tanzen für die Kinder geben. Oder Englisch. Oder
Theater. Oder tausend andere tolle Dinge. Die Lehrer dafür werden
jeweils nachmittags für die Dauer einer französischen Schulstunde
(fünfundfünfzig Minuten) von den Gemeinden der Schulen eingestellt
und der Unterricht wird großartig, denn, da es ja offiziell um die
Qualitätsverbesserung der Schulen geht, dürfen für diese
fünfundfünfzig Minuten nur Diplompädagogen eingestellt werden -
und alle sind glücklich und das Knirschen der Falle geht in das
Kreischen von zum Äußersten angespannten Metall über.
In
Paris ist das kein Problem: Da wachsen arbeitsunterversorgte
diplomierte Pädagogen auf den Bäumen und die nächste Schule, in
die sie für ein paar Minuten zum Einsatz hoppen könnten, ist immer
höchstens zwei Métrostationen entfernt. Aber bei uns auf dem Dorf?
Ich
meine, hey, die Provence ist nicht die Auvergne. Wir sind schon
relativ dicht besiedelt. Aber in unserem
Nicht-Einmal-1500-Einwohner-Städtchen gibt es leider keinen
arbeitslosen Diplompädagogen. Im Nachbardorf auch nicht. Und im
nächsten Nachbardorf...
Und,
peng, da knallt die Falle zu.
Denn
die nächsten Pädagogen-Kandidaten wohnen in Aix-en-Provence oder in
Marseille. Marseille, beispielsweise, ist sechzig Kilometer entfernt,
ein erheblicher Teil davon auf Landstraßen. Nachmittags unter der
Woche brauchst du ungefähr eine Stunde, um aus Marseille
hinauszukommen, für den Rückweg rechne anderthalb, mindestens.
Macht zweieinhalb Fahrstunden (die Kosten darf man selbst tragen) für
fünfundfünfzig Minuten bezahlte Arbeit. Es mag ja verzweifelte
Diplompädagogen geben, aber in Marseille oder sonstwo jedenfalls ist
kaum jemand verzweifelt genug, um zu uns zu kommen. Oder ins
Nachbardorf. Oder ins nächste Nachbardorf...
Doch
Ministerin Vallaud-Belkacem im fernen Paris hat's befohlen: Die
Lehrer unserer Grundschule haben seit dem Sommer 2014 Stunden auf den
Mittwoch verlegt. (Unterricht von 8.30 bis 11.30 Uhr, das ist
bescheuert wenig.) Der Bürgermeister hat eine Stelle für einen
Diplompädagogen ausgeschrieben.
Allein:
Es meldet sich niemand. Und im Nachbardorf niemand. Und im
Nachbardorf...
Nun
ist Madame Vallaud-Belkacem zweifellos jung, modern, klug – warum
macht eine solche Ministerin eine Reform, die im größten Teil ihres
Landes nicht durchführbar ist? Eine Reform, die, schon von den
Vorgängern vorbereitet, nicht einmal ihr eigenes Werk ist und
womöglich nicht einmal ihren innersten Überzeugungen entspricht?
Weil
sie den größten Teil ihres Landes nicht kennt. Frankreichs
Politik-Elite ist klein und hermetisch verschlossen, wobei es
ziemlich egal ist, ob man links oder rechts steht. Diese winzige
Elite ist eine Pariser Elite. Und Pariser, das kann man als
dahergelaufener Fremder nur langsam verstehen, kennen das Land
jenseits der Périphérique (der Ringautobahn um die Kapitale) nur
als harmloses, possierliches Urlaubsland, in dem man sich einmal
jährlich entspannt. Ein Deutscher, der jeden Sommer nach Malle düst,
ist ja noch lange kein Spanien-Experte. Und so ist ein Pariser, der
„in die Provinz“ reist, kein Frankreich-Experte. Allerdings würde
kein deutscher Malle-Fahrer auf den Gedanken kommen, in die Madrider
Regierung einzutreten. In Paris hingegen besteht, gewissermaßen, das
komplette Kabinett aus Malle-Fahrern.
Madame
Vallaud-Belkacem kommt aus einfachen Verhältnissen, sie hat sich
nach oben gekämpft. Aber sie hat, das geht hier in der Politik nicht
anders, sich in Paris nach oben kämpfen müssen. Und sie hat
dann die Reform ohne große Zweifel durchgezogen, weil es halt in
Paris überhaupt kein Problem ist, sie auch umzusetzen. Und weil sie
sich wohl inzwischen nicht mehr hat vorstellen können, dass es
andernorts anders zugeht als in Paris.
Die
Folge? Wie bei so vielen Gesetzen, von der Homo-Ehe bis zu
Arbeitsrechtsreformen: Demonstrationen überall im Land (auch sie längst
ein beliebtes Frankreich-Klischee) und danach ungeheuchelte
Fassungslosigkeit in der Elite. Wieso sind die Leute bloß so
sauer?
D'accord,
eine Fehleinschätzung der Politiker, kann ja mal vorkommen. In
Deutschland oder Holland, in Skandinavien, Österreich oder
Großbritannien würde sich nun nach solchen Missfallenskundgebungen
die Ministerin mit Beratern und Spindoctors zusammentun und ein wenig
an den Reformen feilen, bis sie auch jenseits der Hauptstadt
praktikabel sind. Etwa die Pädagogenpflicht beibehalten, doch für
Gemeinden unter zehntausend Einwohnern Ausnahmeregeln zulassen. Oder
eine Art Light-Diplom einführen, das es auch im hinterletzten Dorf
Freiwilligen erlauben würde, sich nach einer Ausbildung und Prüfung
zumindest in der lokalen Grundschule zu verdingen; über zu wenig
Arbeitslose klagt ja hier niemand.
Doch
Madame Vallaud-Belkacem blieb 2014 eisenhart. Niemals wird sich das
Gesetz ändern, niemals, niemals, nie! Und es wird eingeführt und
umgesetzt! Und zwar sofort! Als noch recht neueingewanderter Vater
habe ich mich zuerst über die doch auch noch nicht gar so lange
eingewanderte Ministerin gewundert: Sieht sie denn nicht, dass es
Tausende Städte gibt, die unter diesen Bedingungen niemanden finden
können? Will sie es nicht sehen? Kann sie es nicht sehen? Ist sie
ideologisch vernagelt? Ist sie, Verzeihung, doch schlicht zu blöd?
Selbstverständlich
nicht. Ich bin zu blöd. Madame Vallaud-Belkacem ist Politikerin. Und
ein Politiker in Frankreich macht keine Fehler, niemals, niemals,
nie. Jede Veränderung, jede Verzögerung, eine Rücknahme gar wäre
das Eingeständnis gewesen, etwas nicht perfekt gemacht zu haben.
Undenkbar! Wer nicht perfekt ist, der hat einen Fehler gemacht. Und
wer Fehler macht, ist schwach. Und wer schwach ist, der wird
angegriffen. Gnadenlos. Von der Opposition. Von den eigenen
Parteifeindinnen und – feinden.
Denn
in Deutschland oder Holland, in Skandinavien, Österreich oder
Großbritannien hätte man sich am Anfang einer solchen Reform
gefetzt, aber dann gibt jeder seinen Senf dazu und am Ende sind die
meisten zufrieden oder, falls nicht, dann hat zumindest niemand sein
Prestige verloren.
In
Frankreich jedoch kann eine einzige demolierte Reform sehr rasch
deine Karriere knicken. Und eine Reform ist bereits demoliert, wenn
du zu viel nachgeben musst.
Also
hat die Regierung 2014 die Mittwoch-Reform durchgedrückt. Unsere
Rektorin hat seinerzeit keinen Kandidaten gefunden,
selbstverständlich. Unser Bürgermeister hat keinen Kandidaten
gefunden, selbstverständlich. Dann stellt man halt, pst, pst,
irgendjemanden ohne Diplom ein. Der Präfekt weiß das. Der
Bürgermeister weiß das. Die Rektorin, alle ihre Lehrer, die Eltern,
selbst die Grundschüler – alle, alle wissen, dass man das gerade
erst beschlossene Gesetz umgeht. Alle machen die Augen zu und halten
den Mund.
Das
ist nicht pfiffig und listig, das ist bloß lästig und irgendwie
krank. Niemand will Madame Vallaud-Belkacem irgendetwas Schlechtes.
Niemand ist im Prinzip gegen Mittwochunterricht oder gute
Nachmittagsstunden. Aber auch beim besten Willen schafft es niemand,
sich an die Buchstaben des Gesetzes zu halten.
Die
Folge ist natürlich, dass man den Staat gering achtet. Dass man
irgendwann nicht bloß solche Gesetze, sondern generell alle und auch
die allervernünftigsten für prinzipiell ignorierungspflichtig hält.
Kurz: Dass man sich einen Scheiß um die Gemeinschaft kümmert.
Manchmal,
in stillen Minuten – wenn ich Mittwochmittag vor der Schule auf
unsere Tochter warte, etwa – fürchte ich, dass sich das irgendwann
rächen wird.
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