Manchmal
kommt mir die Provence so vor wie der Parkplatz vor einem
Edelrestaurant: Da stehen die gepflegten Vorstadthäuser auf Rädern,
die Limousinen und SUVs, der Lack glänzt und selbst das Gummi der
Reifen ist schwarz poliert. In den Boden eingelassene Spots
umschmeicheln die Wagen mit warmem Licht, Micocouliers behüten die
Blechdächer mit ihren ausladenden Ästen, in deren dünnen Blättern der
Südwind leise rauscht. Vom Restaurant her weht der Duft von
Ratatouille, schöne Menschen lachen schönes Lachen, aus den
Bose-Lautsprechern perlt Zaz, aber schön leise - und leise, leise
klirren die Weingläser...
Putain,
wo sind die schredderigen Citroëns
und Peugeots geblieben? Die verbeulten Karren, in denen nur noch
Hupe, Motor und Fahrertür funktionieren (in dieser Reihenfolge), die
Autos, in denen rotgesichtige ältere Männer in Unterhemden
Baguettes abholen und unfassbar hübsche Mütter ungefähr eine
Millionen Kinder hineinstopfen, um sie zum Strand zu kutschieren? Wo
sind die Proleten geblieben? In der Provence wird doch geschuftet:
Zehntausend Menschen arbeiten bei Airbus Helicopters in Marignane,
dem größten Hubschrauberproduzenten der Welt. Tausende arbeiten in
den Docks von Fos und den Raffinerien von Berre. Noch im
hinterletzten Dorf schleppen selbst bei jenseits der fünfunddreißig
Grad Kerle auf Baustellen Steine und Balken oder liegen Overallträger
in ölverschmierten Garagen unter den schredderigen Citroëns
und Peugeots. Wohin verschwinden diese Arbeiter, wenn sie nicht
arbeiten?
Zum
Beispiel nach Port-de-Bouc.
Port-de-Bouc
ist in gewisser Weise eine Retortenstadt, eine Beton gewordene
Realität aus dem Wahntraum der Sechziger Jahre, als Planer in Paris
die Industrie und ihre Segnungen auch in den Süden hineinzwingen
wollten. Port-de-Bouc war zwar mal ein uralter Ort, ist aber
eigentlich erst in der Neuzeit entstanden, als Tankerhafen neben Fos
und damit als maritime Tankstelle des großen Hafens von Marseille.
Die Stadt, verkehrstechnisch günstig gelegen an einer Bucht am
Ostrand der Camargue, kaum fünfzig Kilometer neben Marseille, nimmt
die bauchigen Schiffe aus Algerien auf, die mit ihrem Öl und
Flüssiggas die Raffinerien des Hinterlandes füttern. Denn, mais
oui, Frankreichs Diesel und Benzin für die polierten SUVs und
Limousinen und die schredderigen Citroëns
und Peugeots wird zu einem nicht unerheblichen Teil in der lieblichen
Provence raffiniert.
Port-de-Bouc
hatte in den schrecklichen siebziger Jahren mal mehr als
zwanzigtausend Einwohner. Die endlose Industriekrise Frankreichs hat
allerdings auch hier Bremsspuren hinterlassen und diese Zahl um
inzwischen etwa zwanzig Prozent vermindert. Nicht vermindert hat sich
die Popularität der Kommunisten. Seit der Befreiung im August 1944
wird Port-de-Bouc von der PCF regiert – und wo könnte man heute
noch in der Provence, außerhalb der Region um den Étang-de-Berre,
einem echten, authentischen kommunistischen Bürgermeister die Hand
schütteln?
Wer
mit dem Schiff nach Port-de-Bouc einfährt, sieht steuerbords
(Steuerbord ist da, wo bei Landratten der Daumen links ist.) große
Kais, an denen rostschlierige Schiffe leergepumpt werden, sieht
Pipelines, Röhrengewirr, dahinter Stahltanks, so rund wie
gigantische Medizinbälle. Backbords (oui, das ist links)
erstreckt sich ein Yachthafen, in dem
ich-weiß-nicht-wieviele-Hunderte kleine Boote so dicht an dicht
dümpeln, dass man sich schon fragen muss, wie ein Hobbbyskipper hier
überhaupt den Ausgang zum offenen Meer findet. Dahinter: Ein
Asphaltplatz, ein paar salzwindzernarbte niedrige Häuser, dann die
HLMs, die Wohnsilos der Sechziger und Siebziger Jahre.
Port-de-Bouc
ist eine Stadt, die man unbedingt mal besuchen sollte.
Das
ist ernst gemeint.
Echt.
Also
schön, der Beweis: Seit 1988 werden hier jedes Jahr im Juli und
August – und zwar an jedem einzelnen Tag in diesen zwei Monaten! -
die Sardinades gefeiert, das Original aller Sardinades im
Midi. Die simple Idee dahinter: Feiern wir ein Volksfest rund um die
kleinen, gegrillten Fische, die unsere Fischer sowieso täglich aus
dem Meer holen!
Das
geht so. Wir fahren nach Port-de-Bouc und folgen den Schildern
„Parking Sardinades“, die uns bis in die Innenstadt zum Hafen
führen – auf den Parkplatz eines Hochhausriegels. Halbdunkel, das
Erdgeschoss besteht aus Garagen und Werkstätten, die Rollläden
herabgelassen, manche Fenster eingeschlagen. Auf einer Art
Betonbalustrade darüber bewegen sich Schatten. Die meisten Fenster
in den höheren Stockwerken sind düster.
„Wohnt
hier noch jemand?“, fragt unsere jüngste Tochter.
Zu
Fuß sind es von hier aus wenige Hundert Meter entlang einer Straße.
Vorbei an der Kaserne der Hafenfeuerwehr – Feuerwehrmann in einem
Tankerhafen, es gibt sicherlich langweiligere Jobs. Und dann: Musik,
Licht, Plastikzelte!
Die
Sardinades, das sind einige schier endlos lange Reihen von Tischen
und Stühlen auf dem Parkplatz des Yachthafens, umgeben von den
Ständen etlicher Restaurants. Das sind Sardinen für sechs Euro, ein
Plastikteller voller Fritten und Meeresfrüchte für acht, ein
gegrillter Riesenthunfisch für zehn. Das ist der Duft nach
frittiertem Fisch und Rosé und Pastis und Zuckerwatte. Das ist ein
blinkendes Karussell für die Jüngsten. Das ist eine Sängerin, die
auf einer Bühne französischen Rock und Songs aus Blues Brothers
röhrt. Das sind tanzende Paare auf dem Asphalt. Und das sind
Hunderte, meist mehr als eintausend, manchmal mehr als zweitausend
lachende, schmatzende, schlemmende, fröhliche Leute, die Schulter an
Schulter an den Tischen sitzen, auf dass kein, aber auch wirklich
kein Platz mehr frei ist. Das sind mehr oder weniger herrenlose
Kinder, die in Banden zwischen den Stuhlreien herumtoben. Das sind
die Kids aus den Hochhäusern, die das Geld, das sie hier in Sardinen
und Fritten anlegen, mit ganz anderen Genussmitteln verdient haben.
Das sind die unfassbar hübschen Mütter und die rotgesichtigen Männer in
Unterhemden. Das sind einige etwas zu stark geschminkte Frauen und
einige unter Kopftuch versteckte. Das sind Haar- und Hautfarben aller
Schattierungen. Und das sind die Papys mit Schnauzbart und
Bauch, die in schwatzender Runde eine Flasche Ricard verdunsten
lassen.
Das
Essen ist großartig, die Stimmung ist großartig, die Musik ist
großartig, das Wetter ist großartig, und als am Nebentisch
tatsächlich eine Gruppe aufbricht, stellt ein Mann deren letzte,
erst zur Hälfte geleerte Roséflasche einfach zu uns hin. „Tiens!“
Das
ist ein Volksfest im Wortsinn, und wenn man nächsten Sommer Hunger
hat auf Fisch und Wein und gute Laune, dann kann man ja mal
„Port-de-Bouc“ ins Navi von Limousine oder SUV eingeben. Die
schredderigen Citroëns und
Peugeots finden den Weg dorthin auch alleine.
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