Martigues
ist eine Stadt im Süden des Südens, fast genau dort, wo die
Provence ins Mittelmeer fällt. In weniger originellen Reiseführern
– leider, leider auch in einem dann doch zum Glück längst
vergriffenen und vergessenen Reiseführer von einem gewissen Cay
Rademacher – wird die Gemeinde als „Venedig der Provence“
gerühmt. Das ist, klar, maßlos übertrieben. Und doch...
Eine
nur wenige Hundert Meter breite Wasserader verbindet das Mittelmeer
mit dem Étang de Berre, der größten Salzwasserlagune Europas.
Dieser natürliche nasse Weg – heute als Canal de Caronte
domestiziert – war schon in der Antike eine Passage für Seefahrer
und eine ideale Basis für Fischer. Das alte Maritima lag auf
einer Insel im Wasserweg, fast direkt an der Öffnung zum Étang de
Berre. In späteren Jahrhunderten vereinte sich die Gemeinde mit
Jonquières und Ferrières, den zwei Dörfern der Ufer, zur heutigen
Stadt. Weshalb noch immer die mittelalterlichen Türme gleich dreier
Kirchen in bloß wenigen Schritten Abstand den Himmel anritzen.
Nach
1945 sind Martigues und andere Gemeinden am Étang de Berre von den
Pariser Planern der Vierten und der Fünften Republik ganz bewusst in
die Hölle gestoßen worden. Die Industrialisierung musste her, und
man hat am Meer Tankerhäfen angelegt, am Land sind Raffinerien,
Wohnblocks und sogar Autobahnen höher als die Kirchtürme in den
Himmel gewachsen: Eine monströse, 875 Meter lange Autobahnbrücke
überwölbt heute in sciencefictionmäßiger Höhe den Canal de
Caronte. (Wer darüber brettert, der mag sich einbilden, dass sich
sein Peugeot kurzzeitig in einen Airbus verwandelt hat.)
Beinahe
50 000 Bürger zählt Martigues heute, und die Stadt hat in der
Provence ungefähr denselben Ruf wie Marseille, bloß in klein.
Doch
wer sich erst einmal durch die Vorortwüsten geschlängelt hat, der
wähnt sich tatsächlich beinahe in Venedig – einem kleinen
Venedig, einem überschaubaren Venedig, aber auch einem viel weniger
überlaufenen Venedig.
Denn
um die alte Insel, das Herz von Martigues, winden sich ein paar
stille Kanäle: Pastellfarbig verputzte Häuschen, krumme Brücken,
Fischrestaurants und Cafés mit Terrassen, schmale Promenaden, ein
versteckter Antiquitätenladen, winzige Parks, Dutzende dümpelnde
Yachten, schräge Denkmäler, bunt lackierte hölzerne
Fischerboote... Die Stadt ist geradezu unfassbar schön. Und noch
schöner wirkt sie, weil manche Monumente schon beim
Schönheitschirurgen waren, viele andere jedoch immer noch charmant
und stolz die Risse, Flecken und Fältchen ihres Alters zur Schau
stellen. Wer noch ungeputzte Provence sucht: Bitte schön!
Aber
wie lange noch?
Vielleicht
wird Martigues bald mehr Reisende anlocken, als sich das ein
promenierender Müßiggänger hier noch vorstellen mag. Denn Paris
wird sich 2024 um die Olympischen Spiele bewerben und.. eh alors?!
Was kommt schon Gutes aus Paris? Mais oui: Wo sollen, bitte,
in der Kapitale die Rennjollen, die Ruderer, wo sollen all die
Wasserflitzer denn antreten? Auf der Seine? In der Bretagne, wo es
regnet und wenn da kein Regen herunterkommt, dann ist gerade Ebbe?
Nein:
Gewinnt Paris den Zuschlag, dann werden die wasserlastigen Sportarten
genau hier ausgetragen: am Étang de Berre und vor der Küste des
Mittelmeeres. Und Martigues wäre mittendrin.
Hamburg,
so sagt man, hat mehr Brücken als Venedig. Aber es wird vielleicht
ein Kaff in der Provence sein, das garantiert viel weniger Brücken
hat als Venedig, ein provenzalisches Kaff also, das Olympia 2024 auf
seine Kanälchen lockt. Martigues traut sich zu, was sich die
Hanseaten nicht zugetraut haben.
Wer
zufällig in der Nähe ist, der sollte sich Martigues also vielleicht
rechtzeitig ansehen, bevor sich die halbe Welt hier trifft - und es dann in Martigues so voll wird wie in Venedig, dem echten.
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