Bevor es zu heiß wird, empfehle ich einen Abstecher in die Antike. Glanum ist eine Stadt der Kelten, Griechen und Römer gewesen, am Nordrand der Alpilles, seit mehr als anderthalb Jahrtausenden aufgegeben, verschüttet, vor hundert Jahren von Archäologen wieder freigelegt… Klingt ein wenig nach Schliemann und Troja oder nach Pompeji und Vesuv und, eh bien, tatsächlich wird der Ort schon lange „Pompeji der Provence“ genannt, was aber nur beweist, dass die Verbreitung heißer Luft bereits vor dem Aufkommen der Influencer erfunden worden ist.
Also Glanum. Die Geschichte geht, sehr kurz gefasst, so: Es war einmal eine versteckte Quelle in einem versteckten, engen Tal in den Alpilles. Den Kelten war diese Wasserstelle in der ansonsten ziemlich schroffen und trockenen Gegend heilig, sie verehrten dort einen Quellgott namens Clan und bauten drumherum ein erstes Dorf.
Im dritten Jahrhundert vor Christus kamen die alten Griechen, die sich seit der Gründung von Massalia/Marseille in der Provence häuslich niedergelassen hatten. Sie machten aus dem Keltendorf ein schmuckes Griechenstädtchen und verwandelten den Keltengottnamen in die griechische Ortsbezeichnung Glanom. Schließlich kamen die Römer, verprügelten die Griechen, und weil sie die Buchstaben „o“ und „n“ aus unerfindlichen Gründen traditionell weniger gern hatten als „u“ und „m“, hieß unsere Gemeinde fortan, genau, Glanum.
Glanum bekam Tempel, Thermen und Theater, dazu Villen, Markthallen, ein Rathaus, einen Triumphbogen, kurz: das Standardprogramm jeder ordentlichen römischen Stadt. Fünftausend Menschen haben hier gelebt, so schätzen Historiker, das ist nicht so wahnsinnig viel – aber die Stadt hatte immer noch ihre heilige Quelle und lag verkehrsgünstig nahe der Via Domitia, einer Art antiker Autobahn, die den weiten Bogen von Italien durch Südfrankreich bis nach Spanien schlug.
Ein schmucker Ort.
Leider rutschen gegen Ende der Antike, warum auch immer, so unglaublich viele Geröllmassen von den Hängen der Alpilles, das der Ort aufgegeben und unter Stein und Erde begraben wurde. Seit 1921 wird er freigelegt – und eigentlich ist bis jetzt gerade mal ein Zehntel der antiken Stadtfläche zugänglich, aber das ist gewissermaßen die City mit den wichtigsten Bauten.
Wer heute hier ankommt, die Ruinen liegen nur einen Steinwurf von Saint-Rémy entfernt, sieht auf dem von einem Ring Platanen umgebenen Plateau Les Antiques zuerst zwei große Monumente, die niemals verschüttet wurden: einen Triumphbogen (dem allerdings schon lange seine obere Hälfte gekappt wurde), sowie das Juliermonument. Das ist ein beeindruckend hohes Grabmal, das entfernt so aussieht wie eine antike Mondrakete, und ganz oben stehen zwischen steinernen Säulen zwei Astronauten in der Toga.
Glanum selbst ist in ein Tal hineingebaut, das zu den Bergen hin ansteigt und dabei immer schmaler wird. Eine bis zu sieben Meter breite, steingepflasterte und vollkanalisierte Hauptstraße führt wie ein Rückgrat mitten hindurch. Wer hier flaniert, sieht links und rechts mal eine Villa, mal das Forum, mal ein antikes Rathaus, mal einen Tempel und die Thermen natürlich auch. Und, ganz am Ende und reichlich versteckt, schimmert immer noch (eher trüb-grünes) Wasser in der heiligen Quelle.
An der Kasse wird ein kleiner archäologischer Führer verkauft, der sehr schön und übersichtlich ist. Wandert man mit ihm durch Glanum, kann man sich das Leben von vor zwei Jahrtausenden ganz gut vorstellen. Die Steine der Ruinen sind so grau wie die Felsen der Alpilles, im Hintergrund leuchten grün Aleppo-Kiefern auf den Hängen, über die Monumente wölben sich die rot betupften Wipfel der Judasbäume und im Mai sprenkeln Mohnblumen die Mauerkränze. Es duftet nach Blüten, Vögel singen. Und wer an einem Wochentag noch vor zehn Uhr morgens kommt, hat die Antike mit ein wenig Glück sogar ganz für sich allein.
Dann kann man sich nicht nur, vom Büchlein inspiriert, die großen Ruinen ungestört ansehen, sondern sich auch auf die Suche nach den manchmal anrührenden, manchmal lustigen, manchmal rätselhaften Details machen. Zum Beispiel:
Am Triumphbogen steht seit zwei Jahrtausenden eine gefesselte Frau, die in ihrer Trauer den Kopf verhüllt hat.
Das Juliermonument wird von Reliefs verziert, die Schlachtengetümmel zeigen: Legionäre in Rüstungen, halbnackte Barbaren; Pferde, Waffen, Sieger und Besiegte – und irgendwo am Rand steht ein kleingewachsener Mann, der ungerührt von einer Textrolle abliest, als wäre er ein Nachrichtensprecher.
Mitten in Glanum erhob sich einst ein Tempel, in dem eine rätselhafte Priesterin einer rätselhaften Göttin einen kleinen Altar geweiht hat – und auf dem sind, als Schmuck, zwei … Ohren eingemeißelt.
Soweit ich weiß, gibt’s so etwas nicht einmal in Pompeji zu entdecken.
Weitere Informationen zu Glanum gibt es hier: https://www.site-glanum.fr/