Dienstag, 5. November 2024

Übertourismus in der Provence und was dagegen vielleicht hilft

 Neulich waren meine Frau und ich mit unserer Jüngsten in der Toskana, das ist ja praktisch bei uns um die Ecke. Die Provence und die Toskana haben viel gemein, zum Beispiel viele Touristen. Der Ponte Vecchio in Florenz war an einem Dienstagvormittag Ende Oktober so voll wie früher mal Hertie im Sommerschlussverkauf. (Das war jetzt mal echt retro.) Für die Uffizien musst du – im Spätherbst, wohlgemerkt – die Eintrittskarten Wochen im voraus per Internet buchen und dann genau zur festgesetzten Zeit da sein, damit du hineinkommst. Und das kostet dann für drei Personen einen dreistelligen Betrag.




Keine Stadt in der Provence ist so ein Kunstballungszentrum wie Florenz, aber wenn man mal irgendwo Tourist ist, dann fällt einem auf, wieviele Touristen bei uns inzwischen auch, nun ja, sagen wir: Geduld und Geld aufbringen müssen. Die Calanques, die Côte Bleue, der Berg Sainte-Victoire – überall werden selbst Wanderwege zu Gated Communities, obwohl dahinter oft niemand wohnt. Es wird bloß zur Hauptsaison (die inzwischen von April bis Mitte Oktober währt) so voll, dass die Natur leidet und schließlich auch Feuerwehr- und Rettungswagen nicht mehr durchkommen. Also werden bereits die Zufahrtsstraßen geschlossen, und nur wenige Auserwählte (Ticketkäufer, Einheimische) dürfen passieren. Museen nehmen solide zweistellige Eintrittspreise, und am besten reserviert man das auch Wochen voraus und auch nicht nur zur Hauptsaison. Und der Cours Mirabeau in Aix-en-Provence oder die Arena in Arles können es sommers locker mit dem Ponte Vecchio aufnehmen, San Gimignano ist auch nicht voller als Les Baux.





Eigentlich ist diese Reisefreude ja toll, und ich werde mich hüten, den Touristen in seiner Schlechthinnigkeit zu kritisieren, ich bin ja manchmal selber einer: Für, zum Beispiel, die Provence muss niemand tonnenweise Kohlendioxid per Jet in die Atmosphäre blasen, europäische Reiseziele sind recht nah und per Zug erreichbar. (Soll ja sogar Leute geben, die mit dem Fahrrad bis zu uns strampeln.) Die Städte und Dörfer stehen seit Jahrhunderten in der Landschaft herum, das sind keine neu angelegten Golfplätze, Freizeitparks und was auch immer. Die Natur wird fast überall gut geschützt, nicht selten auf Nationalpark-Niveau. Und die Besucher interessieren sich gemeinhin für Land und Leute, Kunst und Kultur und Küche, jedenfalls sind es meist angenehme Gäste.

Nur halt zu viele.

Was tun?

Da droht sofort die Verbotsfraktion am Horizont, vor allem am deutschen Horizont. Im (natürlich überaus wohlmeinenden) Verbieten und Regulieren führt Schwarz-Rot-Gold den Medaillenspiegel an. Man könnte sich Zwangsgebühren beim Grenzübertritt vorstellen oder CO2-Kontingente pro Person und Jahr oder schlicht das Verbot von Flugzeugen, Autos und Schiffen. Da die Bundesbahn sowieso nicht fährt, kommt dann praktisch niemand mehr weit aus dem Land heraus.

Oder halt andersrum: Zielregionen wie die Provence (oder die Toskana, Mallorca, die griechischen Inseln, London…) könnten Nordkorea spielen, sich einzäunen und niemanden mehr hineinlassen.

Wollen wir das? Genau.

Was aber dann?




No problem, Baby, it’s capitalism! Wie gesagt: Florenz, Uffizien, dreistellig. Dann bist du noch nicht auf der Domkuppel, dem Turm, noch nicht in irgendeinem anderen Museum, nichts, nada, niente. Die gesamte Innenstadt ist für nicht-einheimischen Autoverkehr gesperrt (super, da ruhig, ökologisch, denkmalschützend), dafür kosten die Parkhäuser drumherum zweistellige Beträge am Tag, und Bus und Bahn sind auch nicht gerade umsonst. Drei Leute volles Kulturprogramm in Florenz kostet dich also locker mehrere Hundert Euro, und da hast du noch keine Pizza gemampft und vom Hotel, AirBnB oder Campingplatz wollen wir gar nicht reden. Wohlgemerkt: Mehrere mildgrüne Euro-Scheinchen pro Tag.


Die Provence ist noch nicht ganz so weit, aber sie holt auf. Das merkt man bloß als Einheimischer nicht so, sie ist jedoch schon verdammt nah dran an Florenz & Co. Irgendwann reguliert sich hier wie andernorts das Problem des Übertourismus auf kapitalistische und mithin natürliche Weise. Wir werden wieder Reisende haben wie vor hundert Jahren, in den Goldenen Zwanzigern: Schicke Menschen, die per Zeppelin oder Orient Express zu schicken Zielen fahren, weil bei ihnen schicke Millionen auf dem Konto herumliegen und darauf warten, in schicken Grandhotels ausgegeben zu werden. Und wenn dein Tresor nicht ganz so voll ist, tja, zu Hause ist es auch schön…

Schade eigentlich.

Im November ist die Provence übrigens ganz nett. Und gar nicht so voll. Noch nicht.


P.S.: Am 8. November lese ich gemeinsam mit den Kollegen Sophie Bonnet und Pierre Lagrange (und moderiert von Volker Albers) auf dem Hamburger Krimifestival. Zumindest für einen Abend und zumindest literarisch kommt die Provence dann sogar hoch in den Norden bis zu Elbe und Alster.

Infos hier: https://www.krimifestival-hamburg.de/programm/sophie-bonnet-cay-rademacher-pierre-lagrange

Freitag, 4. Oktober 2024

Regen, la rentrée und wie toll es ist, keine Regierung zu haben





Es ist Oktober, Zeit auf den Herbst zu blicken. (Das ist ja jetzt mal ein origineller Einstieg.) Die Provence – zumindest meine Ecke der Provence – sieht ganz anders aus als in anderen Jahren.


Nämlich grüner.

Normalerweise ist der September quasi der schönste Sommermonat: Sonnig, doch eher 28 als 38 Grad, und die Nächte sind bereits schön lang und so kühl, dass man gut durchschlafen kann. Im Oktober geht der Sommer in die Nachspielzeit, manchmal liege ich noch zur Monatsmitte oben ohne in der Sonne und unten mit im warmen, milden Meereswasser in irgendeiner Calanque.

2024 hat es hingegen geregnet, nicht immer, aber immer mal wieder. Ich will mich nicht beklagen, schließlich passiert anderswo in der Welt Schlimmeres, und damit meine ich nicht nur Starkregen. In der guten alten Vordioxidzeit war es so, dass es im Midi bis April mal tröpfelte, dann war Ruhe in der Wolke. Erst zu Mariä Himmelfahrt (Atheisten schlagen das Datum bitte im Google-Kalender nach) drohten die ersten Hitzegewitter. Und im September und Oktober tröpfelte es dann wieder vor sich hin, wenn überhaupt, siehe oben.



Dieses Jahr war in Frankreich und ja, auch in Südfrankreich, der feuchteste September seit Beginn der Regenaufzeichnungen, und auch in den Monaten davor gab’s ständig was auf die Mütze.

Das ist nicht ganz schlecht.



Der in den vielen trockenen Jahren davor bedrohlich gesunkene Grundwasserstand ist endlich wieder auf dem normalen Level (das vielleicht gar nicht länger normal, sondern eben jetzt die Ausnahme ist). Flüsse, Bäche, Seen sind schön voll. Ob sich alle Bauern freuen, weiß ich nicht, manche hätten zumindest zur Erntezeit von Obst und Gemüse ein paar Wolkenbrüche weniger begrüßt. Aber, siehe oben, immerhin blieb diesmal alles schön grün hier.

Und das bedeutet nämlich auch: So gut wie keine Brände. Kein Buschfeuer in der Garrigue, kein flammendes Inferno, nur weil mal wieder ein Vollpfosten ne Kippe aus dem Autofenster schnippt. Um mich herum haben einige Leute gemault (also schön: ich maulte manchmal ebenfalls), doch in gewisser Hinsicht war dieses Jahr bislang eine Art Erholungspause für die Natur.

In anderer Hinsicht für uns übrigens auch: Wir hatten keine funktionierende Regierung. Hey, keine neuen Gesetze, keine neuen Verordnungen, und ich bin fest davon überzeugt, dass die Olympischen Spiele (mehr dazu: https://provencebriefe.blogspot.com/2024/07/olympia-in-marseille-segeln-und-fuball.html) vor allem deshalb grandios und pannenfrei über die gigantische Bühne gingen, weil wir, genau, nur machtlose Regierungsstellvertreter in Paris hatten.

Jetzt ist la rentrée, Schule, Uni, Arbeit, alles hat nach dem Sommermärchen wieder begonnen. Und wir haben auch wieder eine Regierung und die kündigt bereits Schreckliches an, und im Alltag kämpft man schon wieder mit den windradgroßen Windmühlen der amoklaufenden Bürokratie… Manchmal ist es besser, keine Regierungen zu haben, als die, die uns drohen.



Also: Wenn es auch in den nächsten Jahren ein bisschen mehr Regen und ein bisschen mehr Anarchie gäbe, ich könnte mich daran gewöhnen.

Mittwoch, 31. Juli 2024

Olympia in Marseille, Segeln und Fußball

Olympia in Paris ist super, Olympia in der Provence ist aber auch nicht ganz schlecht. Wir haben zwar keinen Riesenhai in der Seine, dafür jedoch die allerbesten Segler und Surferinnen, die sich an einer der schönsten Küsten der Welt Trafalgar-epische Regatten liefern. Ich hatte übrigens schon mal zur Zeiten erster Olympia-Vorbereitungen erwähnt, dass kleine Rennboote große Immobilienpreise auslösen können (https://provencebriefe.blogspot.com/2017/09/inder-gefahrlichen-c-o-tebleue-gibt-es.html). Trotz Putin, Pest und Cholera ist es auch so gekommen, und Hausverkäufer und AirBnB-Vermieter freuen sich, aber wer von uns ist das schon?




Wir haben in Marseille auch ein wundervolles Stadion. Und es war mir lange nicht bewusst, tja, dass da ja auch olympische Fußballspiele ausgetragen werden. Also hat sich der provenzalische Teil der Familie gesagt: Segeln, Fußball vor der Haustür, irgendwie müssen wir bei Olympia dabei sein.


Segeln: Wir klettern auf einen steilen Felsen in den Calanques der Côte Bleue hinauf, bis wir einen freien Blick auf Marseille in weiter Ferne haben, auf das Graf-von-Monte-Christo-mäßig berühmte Château d’If und die steinigen Inseln von Frioul.

Da!“ ruft meine Frau und zeigt mit ausgestrecktem Arm ins Große Blau.

Tatsächlich kreuzen einige weiße Dreiecke auf der azurnen Scheibe herum. Aber auch mit einem Fernglas als Zwicker kann ich nicht so wahnsinnig viel mehr erkennen. Das sind doch Segelboote wie du und ich, und wenn die da herumschippern dürfen, dann kann das kein abgesperrtes Seegebiet sein. Ergo: Nix Regatta.

Ein paar Tage später bin ich mit unserer Jüngsten auf den Terrasses du Port in Marseille.

Da!“, ruft meine Tochter und zeigt mit ausgestrecktem Arm ins Große Blau.

Tja, jetzt hätte ich mal mein Fernglas nach Marseille mitnehmen sollen… Macht nichts, diesmal ist es wirklich ein Treffer, nein es sind gleich zwei: Links, am Château d’If, rennt eine Meute Surfer um die Wette. Rechts, bei den Inseln von Frioul, sind es die 49er Rennjollen. Ahoi, ich bin Zeuge von Olympia-Regatten!








Man kann zwar nicht viel sehen, zum Beispiel schon gar nicht, wer eigentlich gewinnt. Unsere Tochter lässt die Live-Übertragung auf ihrem Handy laufen, und da verfolgen wir auf dem kleinen Monitor, was wir im großen Panorama nicht so richtig mitkriegen. Aber, hey, selbst auf den superklaren Drohnen- und Beiboot-Aufnahmen des Fernsehens erkennt doch kein Laie, wer gerade führt und warum. Da helfen auch ein paar digital eingeblendete Linien wenig, seien wir ehrlich (obwohl ich selbst extrem entspannter Hobby-Segler bin): Segeln hat was von Dressurreiten – du musst es schon selbst machen, um zu kapieren, was da gerade abgeht. Alle anderen stehen da wie der Ochs vorm Berg. (Muss man das heutzutage gendern? Die Ochs*in vorm Berg?)

Trotzdem können meine Tochter und ich angeben: Wir sind bei Olympia dabei, und sei es in zwei Seemeilen Entfernung und an Bord eines Einkaufszentrums am Hafen von Marseille.





Fußball: Olympique Marseille ist die eigentliche Religion im Süden und das Vélodrome ist ihr Tempel, habe ich vor beinahe zehn Jahren schon mal hier verkündet. (Ja, uups, wie die Zeit vergeht. Ich bin zwar bloß ein mittelfleißiger, aber immerhin ausdauernder Provencebriefe-Schreiber. Und hier an dieser Stelle einen Sonderapplaus für Sie, die und der Sie mir seit was-weiß-ich-wievielen-Jahren gewogen sind. https://provencebriefe.blogspot.com/2014/11/dieanhanger-von-olympique-de-marseille.html)

Also, aus irgendwelchen bescheuerten Marketinggründen darf das in Marseille weltberühmte Vélodrome für die Olympiade nicht so heißen, sondern ist kurzerhand in „Stade de Marseille“ umgetauft worden, putain. Na, macht nichts. Wir laden die App und kaufen darüber zwei Tickets für ein Vorrundenspiel: Frankreich gegen die Fußballgroßmacht Neuseeland.

Ich schocke unsere Jüngste, als ich sage, dass seit einer Trekkingtour anno 1988 Neuseeland mein eigentlich absolutes Lieblingsland ist und ich eventuell also für die Gäste… Dann schocke ich sie noch mehr, als ich sage, ich habe nur noch Tickets im Gästeblock kaufen können. („War ein Scherz!“)

Das Spiel ist für 19 Uhr angesetzt, zwei Stunden vorher füllt sich das Stadion. 35 Grad, ein Himmel wie blaues Glas und die Wolken haben sich zu hundert Prozent nach Paris verzogen, wo sie auf den Tag der Abschlusszeremonie und also ihren zweiten großen Auftritt warten. Geschätzt zwei Drittel der Plätze sind verkauft, aber, hey, ein Olympia-Vorrunden-Spiel an einem Dienstagabend und 40 000 Leute im Vélodrome, das hat man auch nicht alle Tage.

Neben den üblichen hartgesottenen Ultras ist das hier so etwas wie ein Familienfest: Mutter, Vater, kleine Kinder. Eine Freundesclique. Kichernde junge und nicht mehr ganz so junge Mädchen, geschminkt wie für den Barbesuch. Apropos Bar: Einige Herrschaften umgehen wortwörtlich das stadioninterne Alkoholverbot, indem sie sich einfach schon vor dem Stadion die Kanne gegeben haben und mit entsprechender Schlagseite auf die Tribünen segeln. (Auch eine Art Regatta: Findet dieser Kapitän Blau-, nun ja, -bart noch in den Hafen?) Engagierter sind die Menschen, die sich Perücken, Baskenmützen, Plastikhähne in den Farben der Trikolore auf den Kopf gepflanzt haben und mit aufblasbaren Baguettes gegeneinander schlagen.

Ich habe mir gedacht: Wenn schon, dann musst auch du Flagge zeigen, und komme im Trikot vom FC Köln. Das ist ein ziemlicher Erfolg, französisches Nationaltrikot oder Olympique Marseille oder Barcelona trägt gefühlt jeder Zweite (unsere Tochter selbstverständlich im Trikot von OM). Aber Kölle? Erstaunte Blicke: Putain, der Typ trägt einen springenden Ziegenbock auf der Brust, wo haben sie den denn freigelassen? Ich fühle mich stolz und Vélodrome-einmalig – bis ich ein paar Reihen vor mir einen Typen in einem alten HSV-Trikot ausmache. Zweimal zweite Liga in Marseille, hat man auch nicht alle Tage.

Das Spiel ist dann eigentlich wie jedes Spiel im Vélodrome. Als der Stadionsprecher kurz vor Anpfiff das Publikum zum Schreien auffordert, erreicht der Messwert auf der Anzeigentafel 130 Dezibel. (Ob das man nicht gefälscht ist? Andererseits: Ich verstehe schon nix mehr.) Dann Jubel, Trubel, Heiterkeit, La-Ola, Gesänge der Ultras von Nord- zu Südkurve und zurück. Vor uns sitzt ein geschätzt vierjähriger Zidane und sieht das Spiel seines Lebens.






Auf den Betonstufen der Treppen hocken ein paar Kerle und rauchen Kame, bald wabern überall süßliche Dämpfe durch die Runde, und es ist nicht mehr allein die Hitze, die dich zwischen zwei La-Ola-Wellen friedlich stimmt. (Es gibt im Stadion auch ein generelles Rauchverbot und geschätzt tausend Ordner, aber, hey, wir sind in Marseille, Cannabis ist hier ein Grundnahrungsmittel.)

Ach ja, das Ergebnis: 3 : 0 für Frankreich. Entgegen den Befürchtungen unserer Tochter waren nur ungefähr zehn neuseeländische Fans im Stadion (und tatsächlich in unserem Block), mit All-Black-Trikots und übergroßen Flaggen, doch selbst die waren happy.

Nettes Spiel, nette Olympiade, darf gerne so weitergehen.

Dienstag, 2. Juli 2024

Sommer in Eyguières / Mystery Magazine July 2024

Gibt es in diesen Tagen auch gute Nachrichten aus Frankreich? (Die schlechten Nachrichten muss ich nicht extra aufführen, die kann sich jedefrau und jedermann in drei Sekunden ergooglen.) Lieber was mit Sommer, Sonne, Sympathie, d’accord?





D’accord. Neulich wollte ich ganz um die Ecke von hier etwas recherchieren, in den Alpilles westlich von Eyguières. Zwischen dem Mont Menu und den Gipfeln von Les Opies hat sich etliche Milliönchen von Jahren die Durance durch die Berge gefräst. Vor etwa 800 000 Jahren hatte sie keinen Bock mehr und sich stattdessen weiter nördlich in die Rhône ergossen. Das Vallon des Glauges ist dabei zurückgeblieben, ein Tal wie eine Bresche durch die Alpilles, fruchtbarer Boden, und wenn du auch nur ein wenig im Erdreich wühlst, förderst du noch immer rundgeschliffene Flusskiesel zu Tage.

Hier wandert man durch eine Art Miniatur-Bilderbuch-Provence. Im Hintergrund leuchten blassblau und hellgrau die Felsenklippen der Alpilles mit ihrem grünschwarzen Flickenteppich aus Garrigue und mediterranen Eichen. Wer von Süden kommt, flaniert zunächst durch Olivenhaine. Es gedeihen Olivenbäume und Zypressen in trauter Eintracht, die hätte van Gogh sicher gerne gemalt.




Okay, die Agave rechts unten hätte der Meister nicht gemalt, die gab es zu seiner Zeit noch nicht. Das ist eine invasive Art in der Provence, so eine Art Pest mit stachelig-spitzen Blättern, gedeiht wie Unkraut, aber, hey, ich darf nicht meckern, bin ja schließlich selber eine invasive Art.

In manchen Hainen breiten die Bäume ihre übervollen Wipfel über den sandigen Boden.





Hundert Meter weiter sind ihre Kumpels aber wirklich, wirklich arg beschnitten worden:





(Keine Panik, das wird wieder. Die treiben neu aus, und nächstes Jahr kann man schon wieder richtig viele Oliven ernten.)

Oliven sind nicht so Ihr Ding? Macht nichts, einfach weitergehen – und schon steht man im Wein, beziehungsweise zwischen Reben, die Trauben tragen, aus denen im Herbst der nächste Jahrgang Rosé gekeltert wird, und Roten und Weißen gibt es in den umliegenden Weingütern auch. In diesem alles in allem (für unsere Verhältnisse) recht feuchten Frühsommer stehen die älteren Reben in Saft und Kraft und wunderbaren kräftiggrünen Blättern. Die Reihen der jüngst gepflanzten Stöcke stehen noch ein bisschen bescheidener in der Sonne herum.





Und nach noch einmal zehn Minuten Fußmarsch mehr tritt man dort, wo sich das Tal beim Weiler Saint-Pierre-de-Vence (ungefähr zweieinhalb Bauernhäuser) nach Norden hin öffnet, in eine antike Villa. Eh bien, zumindest stolpert man über die Grundmauern einer spätrömischen Villa, die immerhin noch erahnen lassen, wie groß dieser Gutshof aus dem 4. nachchristlichen Jahrhundert einst gewesen ist.





Die Ruinen stehen am Ende eines Feldwegs, inmitten von Reben – und also auf privatem Grund. Doch der Besitzer, gepriesen sei sein Name, hat die Relikte eben nicht untergepflügt, um noch einige Weinstöcke mehr zu pflanzen, sondern die Anlage bewahrt, einfach so. Kein Eintritt, kein Zaun, eine leicht angerostete Schautafel mit den notwendigsten Erklärungen, und ansonsten darfst du hier herumgehen, wie es dir gefällt, oder so ungefähr, wie es dir gefällt: Bitte nicht auf die Mauerreste steigen, das könnte sie beschädigen!

Alors, Alpilles, Oliven, Zypressen, Wein, Ruinen, und das auf einem einzigen lockeren Spaziergang. Nicht schlecht, oder? Das Beste zum Schluss: Ich habe das vor wenigen Tagen gemacht, schon Sommer, Hauptsaison – und doch habe ich keinen zweiten Wanderer gesehen. Ich hatte das alles für mich alleine, kein Massentourismus, keine Konservenmusik, nix, nada. Und wenn man geduldig genug in den makellosen Himmel sieht und wahnsinnig viel Glück hat, hatte ich diesmal nicht, aber okay, falls doch, dann entdeckt man vielleicht sogar über den Gipfeln der Alpilles die schwarzen Silhouetten großer Vögel, die im Aufwind kreisen. Das könnte einer der seltenen Adler der Alpilles sein, oder sogar einer der genauso seltenen Geier, die hier leben.

Es gibt sie also noch, die guten Nachrichten aus Frankreich. In diesem Sinne: Schönen Sommer, Vive la France, Vive la République!





P.S.: Something which might interest our friends in Canda, the USA or UK: This story is no Roger Blanc, though, surprise, it is a "histoire noire" in Southern France. But, hey, English is the language of short stories, I always wanted to try my hand in it... Thank you Kerry and your team for publishing "The Black Scarf"! Mystery Magazine is available on Amazon, either for Kindle or as a PoD:


https://www.amazon.com/dp/B0D8BPDPPH?&linkCode=sl1&tag=mysteryweekly-20&linkId=3d031f860e0748816aa1adb580de05d4&language=en_US&ref_=as_li_ss_tl

Montag, 13. Mai 2024

Unheilvolles Lancon - Capitaine Roger Blancs elfter Fall

Endlich ist es Mai im Midi! Capitaine Roger Blanc ist jetzt seit elf Monaten in der Provence – was bedeutet, dass Sie (sofern Sie mir gewogen sind) und ich dem Flic und seinen Freunden, Kollegen, Nachbarn sowie Finsterlingen aller Art seit elf Jahren auf seinen Irrungen und Wirrungen folgen. Und endlich, endlich, erscheint „Unheilvolles Lançon“ - der neue Band mit Blanc, der genau in jenem Wonnemonat ins Bücherregal taumelt, in dem unser Held auch ermittelt.





Wobei, Wonnemonat…

Der Mai ist hier schon reichlich heiß und trocken. (D’accord, dieses Jahr 2024 ausnahmsweise nicht, da fühlt sich die Provence an wie Hamburg, ziemlich feucht, aber alles schön grün hier. Doch normalerweise, ahhh, da ist der Mai inzwischen unser erster sowie schönster Sommermonat.) Heiß & trocken schon im Mai, das bedeutet enorme Schwierigkeiten, doch auch ein paar enorme Chancen für die Winzer in unserer direkten und etwas weniger direkten Nachbarschaft. (Lançon liegt bei uns um die Ecke, wer sich an den „Brennenden Midi“ erinnert, erinnert sich vielleicht auch noch an eine alte Burg und ein abgestürztes kleines Flugzeug ebendort; siehe https://provencebriefe.blogspot.com/2016/05/furcapitaine-roger-blanc-konnte-der.html)






Ich wollte keinen Wein-Krimi schreiben, der Dich und mich mit Klischees abfüllt, Weinproben, schönes Gästehaus, knorziger Winzer, solche Sachen, die interessieren auch Roger Blanc nicht die Traube. Lieber will ich zumindest andeuten, dass es ein sehr altes, sehr kunstreiches Metier ist, aber eben auch eines, bei dem die Beteiligten heute mit sehr hohem Einsatz spielen: Einsatz an High-Tech und Phantasie, an Wissen und Mut zum Risiko, an Arbeit, Sorgen und, ja doch, richtig viel Geld. (Und das interessiert einen ehemaligen Korruptionsermittler schon eher…)








Winzer machen sich beispielsweise Sorgen um Buschbrände. Nicht, dass ihre Reben brennen, fürchten sie, sie fürchten den Rauch, weil der … na, lesen Sie es ruhig nach. Winzer kämpfen Olympia-mäßig um Goldmedaillen. Winzer, manche zumindest, verkaufen ihre Güter an Hollywoodstars in der Liga von Angelina Jolie und Brad Pitt. (zum Wein in seiner Schlechthinnigkeit: https://provencebriefe.blogspot.com/2024/04/weinanbau-in-der-provence.html)

Und also Weltklasse-Krimistoff, ganz ohne Zynismus.


Außerdem überragt bei einem Weingut hier ein wirklich schroffer, steiler, wilder Felsen Reben, Olivenhaine, Buschwerk. Dieser Felsen ist ein ideales Spielgerät für Freeclimber, die sich gerne an den steilen Flanken austoben. ("Felsen", "Freeclimber", daran denkt man ja auch nicht sofort, wenn man "Wein" und "Provence" hört.) Jedenfalls haben Regen, Wind und ich-weiß-nicht-welche tektonischen Kräfte über Äonen oben auf der schmalen Kuppe eben jenes Felsens kleine Becken ausgehöhlt, bei denen mein krimiautordeformierter Verstand sofort an Gräber denken musste. Gräber, in denen ein Mörder sein Opfer ablegt... Ein Opfer, das ausgerechnet von dort oben spurlos verschwindet, als Blanc und die anderen Gendarmen hinaufklettern und nachsehen...

Das ist doch auch ein Krimistoff, nicht wahr?





Und damit es nicht zu idyllisch wird, kommt auch Marseille vor: Ein altes Schiff im Alten Hafen. Das Haus des Verrückten. Und ein wahnsinnig hässliches Krankenhaus mit einem wahnsinnig schönen Ausblick auf die schönste und chaotischte Stadt am Mittelmeer. (Und, mais oui, Blancs und unser alter Freund Kad Djendelli spielt auch mit.)





Hier jedenfalls gibt's mehr zum Buch:

https://www.dumont-buchverlag.de/buch/cay-rademacher-unheilvolles-lancon-9783755810056-t-5914


Es würde mich also wirklich sehr freuen, wenn Sie Roger Blanc und den Seinen auch auf dieser, seiner elften Reise ins Herz der Provence begleiten…


P.S.: Was ganz anderes, aber noch ein Krimi: In ein paar Tagen erscheint im Kampa-Verlag die Neuausgabe eines Krimis von Georges Simenon: Maigret und das Gespenst (übersetzt von Julia Becker, Barbara Klau, Hansjürgen Wille). Da hatte ich die Ehre und das Vergnügen, ein Nachwort schreiben zu dürfen. Maigret, Paris, Sechziger Jahre… fühlen Sie sich auch diesen Klassiker ans Herz gelegt.

Freitag, 12. April 2024

Weinanbau in der Provence

 Araber und Russen haben Öl, Franzosen haben Wein. Die Sorte, die in der Provence in vielen Barrel gefördert wird und weltweit viele Konsumenten antreibt, ist der Rosé. So weit, so gut.

Und jetzt die schlechte Nachricht: der Klimawandel, putain, schon wieder der.





In der guten, alten Zeit war es so: Die antiken Griechen haben Marseille & Co. vor ungefähr zweieinhalb Jahrtausenden gegründet und dabei Weinreben und Olivenbäume als Immigranten aus der alten Heimat mitgebracht. Weinbau war so ungefähr die beste antike Idee überhaupt und hat sogar noch besser funktioniert als die Demokratie. Rotwein, Weißwein, die Leute haben das immer gewählt, und seit einigen Jahrzehnten hat der provenzalische Rosé mit kräftigen Ellenbogen die anderen Farben beinahe aus dem Regal gedrückt und sich zum echten einheimischen Bölkstoff und zugleich globalem Exportschlager entwickelt.

Promis haben diesen, wie so viele Trends natürlich erst spät mitbekommen. Dafür haben sie das Geld, um ihren erkenntnistheoretischen Rückstand in cash aufzuholen. Beispiele? George Lucas hat in guten Zeiten im Midi Château Margüi für 9 Millionen Euro gekauft, das Traumpaar Brad Pitt und Angelina Jolie die Domaine de Miraval für 16 Millionen (ein Schnäppchen, zumindest war später noch genug Schotter für Scheidungsanwälte übrig), der irischer Milliardär Paddy McKillen Château La Coste für 10 Millionen, der französische Unternehmer Pierre Gattaz Château de Sannes für 11 Millionen. Teuer? Nö. In fetten Vor-Putins-Krieg-Zeiten war ein Hektar provenzalisches Weingut für schlappe 150 000 Euro zu haben. (Wer oenologisch noch etwas drauflegen möchte: Ein Hektar in Burgund kann bis zu 35 Millionen Euro kosten.)

So ein provenzalisches Weingut wie du und ich ist zum Beispiel, direkt bei uns um die Ecke, Château Virant, schön nahe am Étang de Berre: 180 Hektar Weinstöcke, in normalen Jahren sind die gut für wirklich jeden Durst löschende 120 000 Hektoliter. (Und 100 000 Liter Olivenöl wächst bei denen an den Bäumen, auch nicht ganz schlecht.) Zuerst wird der Muscat für den Weißwein gelesen, dann Sauvignon, Chardonnay, schließlich kommen alle anderen Arten ins Fass.

Nur, hey, alle, alle Jahreszeiten werden inzwischen immer heißer und trockener, da kannst du deine Hand zwischen Weinstöcken festkleben, das ändert jetzt leider auch nichts mehr. Früher war Weinlese vielleicht mal eine Angelegenheit für den Herbst – nun schneiden Arbeiter im August die Trauben ab. Rekordhalter ist eben jenes Château Virant, Lese 2003, Erntebeginn: 8. August. Wer sich als Erntehelfer bewerben möchte, dem muss ich den Enthusiasmus etwas dämpfen: Im Hochsommer ist es so heiß, dass die Lese nachts oder bestenfalls in den frühesten Morgenstunden erfolgen muss. Wenn du meinst, dass sechs Uhr morgens früh ist, such dir besser einen anderen Job.





Noch ein Knaller: Seit den alten Griechen musste man niemals, niemals den Wein gießen. Es gab wenig Regen in der Provence, doch der hat zweieinhalbtausend Jahre ausgereicht. Seit einigen Jahre, eh merde, nun nicht mehr. Winzer müssen wässern – bis zu einer Millionen Liter Wasser pro Hektar pro Saison. (Und, siehe oben, so ein eher normalgroßes Weingut wie Château Virant hat 180 Hektar…)

Was machen George Lucas und die anderen armen Winzer nun? Ein Nachbar von uns, der seit ewig und im Familienbetrieb ein richtig tolles kleines Gut bewirtschaftet, denkt ernsthaft darüber nach, alle seine Reben auszureißen und durch solche zu ersetzen, die mehr Trockenheit und Sonne aushalten. In fünf Jahren würden sie die erste Trauben tragen, in zehn Jahren wäre dieser Wein dann richtig gut. Hoffen wir, dass bis dahin der Süden Frankreichs nicht schon wieder zu heiß und trocken auch für diese Rebsorte geworden ist.

Und wo diese neue Rebsorte herkommt? Aus Griechenland, wie schon vor zweieinhalb Jahrtausenden.

Mittwoch, 6. März 2024

Cote Bleue im Sturm

Neulich hat das Mittelmeer mal Atlantik gespielt, und das war schon schön. Den Szenenwechsel hatten wir dem Südwind zu verdanken. Wind aus Süden, das bedeutet eine Ahnung von Afrika, schön warm, und manchmal trägt er sogar Saharasand zu uns, bis die Luft im gelbraunem Staub diesig schimmert. Meistens aber saugen sich die fröhlichen Böen über dem Meer mit Wasser voll und laden das dann an Land über unseren Köpfen wieder ab.





So war es auch vor ein paar Tagen – nur ausnahmsweise mit Windstärke acht oder neun, keine Ahnung wieviel, jedenfalls habe ich ordentlich was auf die Mütze bekommen. Wir sind mal wieder an der Côte Bleue gewandert, und da sagt unsere Tochter: „Das sieht aus wie England.“





Und tatsächlich fühlte es sich an wie Broadchurch mit Pinien. (One of my favorite tv series, especially seasons one and two.) Die Küste ist steil und felsig, fällt aus zwanzig, dreißig Metern nahezu lotrecht ins Wasser, dahinter das große Blau.

Well, diesmal das große Grau.

Der Himmel ist von Horizont zu Horizont fahlgrau, darin dunkelgraue, weiße, silbrige Wolkenstreifen und Wolkenfetzen. Das Mittelmeer hat die Farbe von Schiefer angenommen, geriffelt von zahllosen hellen Schaumkronen, in Landnähe leuchtet es türkis. Der Wind treibt die Wellen gegen die Küste, wo sie sich zu Brechern aufbäumen, bevor sie in haushohen Gischtwänden an den Felsen zerstieben. Du hörst ihr dumpf grollendes Branden, lange bevor du das Meer siehst. Ist mir hier noch nie zuvor passiert.





Am Horizont halten eine Fähre nach Algerien und ein Frachtschiff – wie es aussieht: reichlich unbeeindruckt – stur Kurs gen Süden. Der Leuchtturm von Planier blinkt tagsüber nicht (zumindest kann ich keine Leuchtzeichen ausmachen) und steht bloß als brauner Bleistiftstummel vor dem fernen Himmel. Feinste Tropfen wirbeln von den Brechern hoch zum Küstenweg, es duftet nach Meer, und auf den Lippen liegt der Geschmack von Salz. Möwen segeln auf gezackten, ruckartig die Höhe wechselnden Kursen durch die Böen. Du folgst mit den Augen ihrem Flug, und ganz plötzlich sind sie weg, als hätte sie der Sturm oder das Meer verschluckt.





Wir erreichen die Calanque des Anthénors, eine winzige Bucht, kaum mehr als eine Kerbe in der Steilküste. Am Meeressaum ein paar Handbreit Kieselstrand, die Steine über Äonen vom Wasser glattgeschliffen. Drumherum zernarbte sandfarbene und graue Felsen. Und ganz allein, hart diesseits der auslaufenden Wellen auf dem Boden sitzend, eine junge Frau, Muslima, Kopftuch, ihr Körper umhüllt von einem langen, modischen Wintermantel, den sie sich gegen die Böen eng um den Leib geschlungen hat. Aus dem Maghreb, denke ich, vielleicht hat sie das Mittelmeer, ihr Mittelmeer, noch nie so entfesselt gesehen. Sie bemerkt uns nicht, sie hört uns nicht (die Brecher…), sie blickt bloß unverwandt aufs Meer hinaus, hält ihr schönes Gesicht in diesen salzigen Wind.

Auf ihren Zügen spiegelt sich das pure Glück.