Irgendwo
in der Provence steht eine mittelalterliche Kapelle, deren Inneres
mit antiken Amphoren vollgestellt ist. Das ist kein besonderer
Kirchenschmuck und keine mediterran-katholische Besonderheit. Kein
geschickt platzierter Spot leuchtet die zweitausend Jahre alten
Tonkrüge aus, kein für fünfzig Cent zu erwerbendes Faltblatt
würdigt diese Altertümer. Das unauffällige Gotteshaus ist vielmehr
eine unauffällige ... Rumpelkammer. Stadtkämmerer und Archäologen
haben in das vergessene Kirchlein einfach alle Schätze
hineingestopft, die sie aus dem Boden gebuddelt haben, ohne zu
wissen, wo sie diese verwitterten Dinge sonst hätten abstellen
können.
In
Hamburg habe ich etliche Jahre gewohnt und dabei mitbekommen, wie
Spezialisten mitten in der Innenstadt mit einem Riesenaufwand eine
bloß kaum mehr als tausend Jahre alte Ruine gesucht und, nun ja, leider nicht wirklich gefunden haben.
Und jetzt lebe ich in der Nachbarschaft von einem Kaff, das in zwei-
und zweieinhalbtausend Jahre alten Antiken erstickt und sich nicht
anders zu helfen weiß, als sie hinter einem morschen Riegel
zu verstecken. Das ist der Unterschied zwischen keiner
Kulturlandschaft und einer Kulturlandschaft.
Die
Geschichte der überschüssigen Amphoren geht ungefähr so:
Lançon
bedeutet „Lan“ - „Felsen“ im „çon“ - „Sumpf“. Die
Stadt gehörte im Mittelalter mal den Herren von Les Baux und ist
tatsächlich ein „Felsen im Sumpf“ gewesen: Eine Kalksteinklippe
inmitten einer feuchten Niederung nahe am Mittelmeer und am Étang de
Berre. Dieses Tiefland ist seit dem 18. Jahrhundert durch Kanäle
entwässert worden, heute formen dort Olivenhaine und Weizenfelder
ein agrarisches Muster der Üppigkeit. Auf dem Felsen thront eine
Burg wie eine fette Torte, darunter ducken (Ja, ducken! Man muss
einmal durch diese zusammengequetschten Gassen geschlichen sein.)
sich Häuser und Kirche, eingeschnürt von einer Stadtmauer, die
einstmals eindeutig nicht errichtet worden ist, um malerisch
auszusehen. Inzwischen metastieren Einfamilienhäuser vom Hang in die
Ebene, manche sind moderne Öko-Villen wie in Freiburgs grünsten
Vierteln. Lançon
hat in den letzten Jahren seine Einwohnerzahl glatt verdoppelt und
leistet sich alles, was dazugehört: riesige Sportanlagen, zwei
Supermärkte, eine eigene Gendarmerie-Station und demnächst auch ein
Lycée. So weit, so normal.
Zu
Lançon
gehört jedoch auch ein riesiges, nahezu menschenleeres Terrain: Ein
Ozean aus Kalksteinfelsen, dessen karge Wogen bis beinahe zum
Mittelmeer branden. Dieses Hügelland liegt einige Kilometer vom
Felssporn mit der Burg entfernt, auf dem Boden gedeihen nicht einmal
Olivenbäume. Nur die zähe Garrigue hält sich dort, legt einen
Teppich aus verkrüppelten Bäumen, Dornengewächs, Sträuchern,
Gräsern, Wildkräutern, Disteln über den grauweißen Stein. Im
Sommer zirpen die Zikaden, Eidechsen huschen in Spalten, das nahezu
schattenlose Land heizt sich auf wie eine Kochplatte.
Kein
Wunder, dass es hier gelegentlich brennt...
Vor
etwa fünfzehn Jahren hat ein Feuer einige Hektar Garrigue von den
Felsen rasiert, bevor es von den Pompiers
eingedämmt werden konnte. Unmittelbar danach ist ein Heimatforscher
durch die verkohlte Landschaft gegangen. Der Mann wusste genau: Ist
das zähe Grünzeug fort, dann siehst du Dinge, die du sonst nie
sehen würdest.
Und
tatsächlich: Auf Coudouneu, einer jener Hügelwellen – einer
schroffen Klippe, von der aus der Blick weit bis zum Étang de Berre
schweift – lagen plötzlich Mauern frei, manche waren noch
zweieinhalb Meter hoch.
Und
zweieinhalb Jahrtausende alt.
Die
Archäologen, die hinzugerufen wurden, sehen in der Anlage heute
einen großen, wahrscheinlich befestigten Getreidespeicher.
Wahrscheinlich war es sowohl Fluchtburg als auch Vorratslager einer
irgendwo (aber wo?) in der Nähe liegenden kelto-ligurischen
Siedlung. Auf der Nordseite, wo einst eine Mauer den Zugang
versperrte, wölbt sich der Felsen recht sanft und gleichmäßig aus
dem hügeligen Gewoge. Nach Süden, zum Étang de Berre hin, klafft
eine tückische Lücke. Der Felsen sieht aus, als hätte dort ein
monströser Darth Vader mit seinem Laserschwert eine lotrechte,
vielleicht zehn, fünfzehn Meter tiefe Schneise hineingehauen. Aus
größerer Entfernung mag man glauben, dass man auch von Süden her
über einen begehbaren Anstieg bis zur Kuppe gelangen könnte, doch
kurz vor dem Ziel, zack!, klafft ein nahezu unüberbrückbarer
Abgrund.
Die
perfekte Verteidigungsstellung: Fernsicht, steiler Zugang,
natürlicher Burggraben. Unsere frühen Provenzalen werden sich wohl
und sicher gefühlt haben. Sicher genug, um neben Getreide, Oliven
und Wein auch noch ganz andere Dinge hier hoch zu schleppen.
In
den zuerst vom Feuer und anschließend von Archäologenpinseln
freigelegten Ruinen sind nämlich auch, genau, antike griechische
Tonwaren gefunden worden. Fragmente einer wunderbar bemalten
attischen Schale etwa und, klar, Amphoren, viele Amphoren. Die
Kelto-Ligurer haben offenbar mit ihren Nachbarn gehandelt, den
Griechen aus Marseille. Das antike Massalia war von hier aus für
einen geübten Fußgänger (oder ein Maultier oder einen
Ochsenkarren, sofern die Wege schon gut genug dafür waren) in
höchstens zwei Tagen erreichbar. Ein Frachtsegler mag über den
Étang de Berre und entlang der Côte Bleue ähnlich lange unterwegs
gewesen sein, bis er in den heutigen Vieux Port einlaufen konnte.
Stellen
wir uns vor, dass die Urbevölkerung von Lançon Oliven oder Wein
oder Getreide oder Sklaven in die zivilisierte Metropole geliefert
hat und dafür mit Hellas-Hightech bezahlt worden ist: Schalen und
Becher und Geschirr. (Die Amphoren waren die Container der Antike, in
denen sind landwirtschaftliche Erzeugnisse transportiert und gelagert
worden, die kamen eh.) Oder vielleicht waren die ersten Bürger von
Lançon ja auch, gemäß einer anderen uralten hiesigen Tradition,
Kriminelle, die geklaut haben, was sie kriegen konnten. So oder so:
Antike Kunst gelangte auf den sicheren Felssporn im Nirgendwo.
Irgendwann
jedoch wurde der befestigte Hügel aufgegeben, irgendwann wurden
Getreidekörner und griechische Scherben vergessen, irgendwann kam
die Garrigue, irgendwann kam das Feuer und irgendwann kamen die
Forscher.
Die
bemalten Fragmente, die sie dann aus dem Boden geholt haben, sind
winzig, die Amphoren jedoch sind riesig. Was tun? Klar, man könnte
ein Museum bauen. Das aber kostet Geld. Klar, man könnte die Antiken
an eines der bestehenden Museen weitergeben. Man könnte doch, nach
zweieinhalb Jahrtausenden, die Schätze gewissermaßen nach Marseille
zurückführen, wo sie einst vielleicht hergekommen sind, um...
Putain!
Marseille? Bist du irre? Wer schenkt der Racaille
aus Marseille auch nur eine einzige, verdammte Scherbe?
Alors:
Die kleinen, tollen Schätze stehen heute in staubüberkrusteten
Vitrinen in einem nicht einmal mannshohen Kellergewölbe in einem
Nebengebäude der Mairie
von Lançon. Sie können mir folgen? Wegbeschreibung und Schlüssel
zum Keller gibt es beim Rathaus.
Vielleicht.
Und
die Amphoren, tja, die hat man in eine Kapelle gesperrt, für deren
Restaurierung man ebenfalls kein Geld ausgeben will. Ein
mittelalterlicher Lagerraum für antikes Gerümpel. Einem
Ex-Hamburger, der aus seiner Stadt weder mittelalterliche Lagerräume
noch antikes Gerümpel kennt, kommen die Tränen.
Ach
so: Die Mauern von Coudouneu erheben sich bloß ein paar Hundert
Meter neben einer vielbefahrenen Route départementale. Man erkennt
sie jedoch erst, wenn man beinahe vor ihnen steht. Noch. Denn die
Garrigue wächst wieder, das zähe Grünzeugs wird die alten
Brandnarben bald endgültig überwuchert haben und die zweieinhalb
Jahrtausende alte Ruine gleich mit.
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