Ist
das nun Krieg? Nach den Morden und Gewalttaten in der Redaktion von
„Charlie Hebdo“, nach den exekutieren Polizisten, dem hinterrücks
niedergeschossenen Jogger, den massakrierten Juden im Supermarkt kann
man das denken. Auch wenn es sich bizarr anfühlt, in der Provence,
achthundert Kilometer vom Alptraum entfernt. Unglauben,
Fassungslosigkeit, Wut, Trauer, als die Nachrichten vom 7. Januar
hier ab dem späten Vormittag einschlagen ... und einschlagen ... und
einschlagen. Der Alptraum will überhaupt nicht aufhören, drei
elende Tage lang.
Und
in diesen Tagen und in den Tagen danach merkt jeder hier, dass man
eben doch nicht achthundert Kilometer entfernt ist, sondern dass der
Midi ein geistiges und manchmal auch brutal körperliches
Schlachtfeld ist, schon lange. Ein paar Erinnerungen, die in der –
berechtigten – Flut der vielen Beiträge zum islamistischen Terror
in den Hintergrund gedrängt werden, wenn sie denn überhaupt je im
allgemeinen Bewusstsein registriert worden sind:
Mehdi
Nemmouche, der Mörder, der im Jüdischen Museum in Brüssel um sich
geschossen hatte, wurde am 30. Mai 2014 verhaftet, sechs Tage nach
der Bluttat – und zwar in Marseille, zufällig, bei einer Kontrolle
eines Fernbusses durch den Zoll. Nemmouche, ein Krimineller, saß
2008 bis 2010 im Gefängnis: in Salon-de-Provence. Hinter Gittern
wurde aus dem „gewöhnlichen“ Kriminellen (Klingt das nicht
schrecklich verniedlichend?) ein radikaler Islamist. Hört sich
plötzlich vertraut an, diese Geschichte, nicht wahr?
Die
Frage ist: Was hatte Nemmouche in Marseille zu suchen, der
zweitgrößten muslimischen Gemeinde Frankreichs? Oder besser: Wen
suchte er hier? Komplizen? Hintermänner? Helfer? Wen auch immer:
Nemmouche schweigt – und niemand außer ihm und vielleicht jenen
Unbekannten weiß, was er hier in Marseille wollte. Auf jeden Fall
laufen diese Unbekannten noch frei herum, womöglich irgendwo im
Midi.
Von
den französischstämmigen Muslimen, die in Syrien für den „Djihad“
kämpfen, sind bislang mindestens sechzig umgekommen. Von diesen
sechzig stammen sechs – ein Zehntel! - aus Lunel, einer Stadt
zwischen Nîmes
und Montpellier. Einer Gemeinde von bloß 26 000 Einwohnern. Bei
diesen Zahlen kann man wohl schwerlich von „isolierten
Einzeltätern“ sprechen...
Wo
kommt das Arsenal der Mörder her? All die Kriegswaffen, die man
sonst eher aus miesen Filmen kennt? So schwer, wie man denken möchte,
sind diese automatischen Gewehre allerdings nicht zu besorgen,
zumindest wenn man bereits „gewöhnlich“ kriminell ist. Und
zumindest, wenn man Marseille kennt. Hier finden „Abrechnungen“,
so nennt das die Polizei und die Presse und eigentlich jeder,
unter Drogendealern mit der Kalaschnikow in ermüdend blutiger
Regelmäßigkeit statt. Im Durchschnitt etwa alle zwei Wochen wird
ein Dealer mit der kalash
umgebracht. Wohlgemerkt: Alle anderen Morde im Milieu sind darin
ebenso wenig mitgezählt wie sonstige Bluttaten, etwa in Beziehungen.
Alle zwei Wochen Salven aus Schnellfeuergewehren...
Eine
AK-47 (oft eher deren jugoslawischer Nachbau) ist nämlich, via
„Balkan-Connection“, in Marseille für 500, 800, bestenfalls 1000
Euro zu haben. Das Arsenal der Mörder von Paris lässt sich also
leicht, relativ risikolos und ziemlich billig zusammenstellen.
In
Avignon thront der monumentale mittelalterliche Papstpalast, heute
ein riesiges Museum. Das Museum hat eine Website – und diese
Website wurde am 9. Januar, noch während das Drama andauerte und als
bereits Tausende im Protest auf der Straße waren, von Hackern
gekapert: Islamisten, die dort Propaganda verbreiteten. Ebenso wie
auf der Site des Friedensmahnmals von Caen. Ebenso wie auf den Seiten
mehrerer Gemeinden in der Nähe der Attentatsorte.
Als ob das alles nicht reicht: Als letzten Sonntag buchstäblich
Millionen – Christen, Juden, Muslime, Atheisten und wer auch immer
sonst an was auch immer glaubt, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Urfranzosen und
Einwanderer - in Paris auf die Straße zur vielleicht
beeindruckendsten und würdevollsten Demonstration aller Zeiten
gingen, da war eine Gruppe ganz woanders:
Der
Front National zelebrierte sich und seinen Hass in Beaucaire, an der
Rhône,
nur ein paar Kilometer vom virtuell gekaperten Papstpalast entfernt.
Mitten in der Provence. Zufall? Oder weil hier das Wetter so schön
ist, dass man auch im Januar eine manif
riskieren kann? Njet: Im Midi sind die Rechten so stark wie kaum
irgendwo sonst, und Beaucaire ist eine ihrer größten Bastionen.
Marine Le Pen will die bitteren Früchte ernten, denn eigentlich
herrscht in Frankreich permanent Wahlkampf und 2016 geht es um das
Präsidentenamt. Ein Witz, wenn als letzte Folge der zwanzig Toten
von Paris eine anti-muslimische und anti-jüdische und
anti-Charlie-Partei („Je ne suis pas Charlie“, polterte der Senior und
das ist immerhin ehrlich.) den Elysée-Palast erobert, oder? Das
Lachen bleibt einem im Halse stecken.
Und
doch: Samstag, fünfzehn Uhr, Salon-de-Provence. Eine hübsche
Kreisstadt, wuchtige Burg in der Mitte und seit Nostradamus hier
raunte, war kein Bürger mehr berühmt. Aber nun sind die Straßen
voll. 8000 oder 10 000 Menschen sind wir: bildhübsche
Gymnasiastinnen, pensionierte Flics, Damen in Pelz, Familien mit
algerischen Wurzeln. „Je suis Charlie / Je suis policier / Je suis
juif“ auf den Plakaten, selbstgezeichnete Karikaturen, die
Trikolore – und viele, viele Stifte. Der Bürgermeister verliest
die Namen der Toten. Bei jedem, jedem!, brandet trotziger, erhabener Beifall auf.
Dann,
plötzlich, singen wir, manche mit erhobener Faust:
Allons
enfants de la Patrie
Le jour de gloire est arrivé !
Contre nous de la tyrannie
L'étendard sanglant est levé
Entendez-vous dans nos campagnes
Mugir ces féroces soldats?
Ils viennent jusque dans vos bras.
Égorger vos fils, vos compagnes!
Le jour de gloire est arrivé !
Contre nous de la tyrannie
L'étendard sanglant est levé
Entendez-vous dans nos campagnes
Mugir ces féroces soldats?
Ils viennent jusque dans vos bras.
Égorger vos fils, vos compagnes!
Aux
armes citoyens
Formez vos bataillons
Marchons, marchons
Qu'un sang impur
Abreuve nos sillons
Formez vos bataillons
Marchons, marchons
Qu'un sang impur
Abreuve nos sillons
Ziemlich
martialisch – und auf einmal gar nicht mehr aus der Zeit gefallen, der alte Kampfsong aus der Revolution.
Da stehst Du, mitten in einem Meer stolzer, zorniger Bürger einer
Republik, und spürst: Die werden kämpfen! Wir werden kämpfen!
Vielleicht ist das der Ruck, der durch diese Republik gehen muss. Wir
hätten einen hohen Preis dafür bezahlt. Aber dann wären die Opfer
von Paris zwar eines brutalen und viel zu frühen, doch wenigstens
keines sinnlosen Todes gestorben.
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